GELSENKIRCHEN – In Deutschland droht nach Expertenmeinung eine Verschärfung des Pflegenotstandes. Michaela Evans, Direktorin am Institut für Arbeit und Technik der Ruhr-Universität Bochum, warnte vor „abgehängten Pflegeregionen“. Dort würden schon in wenigen Jahren die Pflegekräfte nicht mehr ausreichen, um pflegebedürftige Menschen zu versorgen – wenn nicht rechtzeitig gegengesteuert werde. Die Sozialwissenschaftlerin forderte deshalb, „Pflegearbeit durch bessere Arbeitsbedingungen und Einkommen attraktiver zu gestalten“.
Insbesondere in der Altenhilfe bestehe „zeitnaher, dringender Handlungsbedarf“, sagte Evans. Fast alle Akteure seien sich einig, dass diese Berufe deutlich aufgewertet werden müssten. Allerdings verhinderten „vielfache Blockaden eine echte Aufwertungsstrategie“. Die Expertin rief deshalb die Akteure in der Pflegebranche auf, über ihren Schatten zu springen und Partnerschaften einzugehen. Damit könne auf Dauer und flächendeckend in Deutschland eine qualitativ gute Pflege sichergestellt werden. Außerdem brauchten pflegende Angehörige mehr Unterstützung.
Die familiären Strukturen dürften nicht überfordert werden, betonte Evans. Deshalb seien vernetzte Pflege- und Betreuungskonzepte wichtig. „Ob und welche konkrete Rolle digitale Technik in diesem Kontext spielen kann, wird in den kommenden Jahren noch ein Thema sein“, sagte sie.
Laut Evans befindet sich der Pflegemarkt „in einem nachhaltigen Transformationsprozess“, der auch durch neue Kapital- und Investmentstrategien geprägt sei. Insbesondere kleinbetriebliche Anbieter müssten Strategien entwickeln, um nicht von den großen, teilweise internationalen Pflegekonzernen übernommen zu werden. In diesem Wettbewerb könnte es zwischen kleinen privaten und gemeinnützigen Pflegeanbietern „neue Allianzen mit gemeinsamen Interessen“ geben, sagte die Wissenschaftlerin. Denn „für den Umgang mit internationalen Investoren braucht es Spielregeln, und diese können nur im Zusammenspiel der Akteure entwickelt werden“.
In einigen Regionen Deutschlands ist nach Angaben der Experten bereits die Entwicklung breiter Bündnisse zu beobachten: sowohl trägerübergreifend als auch zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften.
Diese „Bündnisse des letzten Augenblicks“ seien geschlossen worden, um einen ruinösen Preis- und Lohnwettbewerb in der Pflege zu stoppen, erklärte Evans: „Auch gemeinsame Strategien zur Fachkräftesicherung stehen dabei auf der Tagesordnung.“ Sie verwies etwa auf einen neuen, trägerübergreifenden Tarifvertrag für Pflege-Azubis in Bremen. epd
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Bündnisse gegen Pflegenotstand gefordert
Expertin warnt vor „abgehängten Pflegeregionen“ mit mangelhafter Versorgung
