Boccaccio ist weltberühmt durch sein “Decamerone”. Doch sein Leben ist rätselhaft. Fest steht: Er hat die italienische Sprache stark geprägt.
Wer an den italienischen Dichter Boccaccio denkt, denkt auch sofort an sein berühmtestes Werk: das Decamerone mit seinen freizügigen erotischen Geschichten. Kein Zufall deshalb, dass zum 650. Todestag des Renaissance-Schriftstellers am 21. Dezember auch eine neue Übersetzung des Decamerone in einer Prachtausgabe bei Manesse erschienen ist.
Giovanni Boccaccio (1313-1375) gilt als ein Wegbereiter der Renaissance und der italienschen Volkssprache. Nach seinem Tod wurde er neben Dante Alighieri, dem Dichter der “Göttlichen Komödie”, und Francesco Petrarca, dem Dichter des “Canzoniere”, als eine der drei Kronen der italienischen Literatur verehrt.
Die Quellen über Boccaccios Leben und Wirken sind dünn. Rechtzeitig zum Jubiläum hat die Göttinger Literaturwissenschaftlerin Franziska Meier eine umfangreiche Biografie vorgelegt. Sie musste detektivisch arbeiten, um das Leben des Gelehrten zu rekonstruieren, der in Florenz oder im nahen Certaldo geboren wurde und dort starb. Es fehlt an verlässlichen Dokumenten.
“Die Lücken sind so groß, dass es bis kurz vor der Pest 1348, als Boccaccio schon Anfang 30 war, im Grunde nichts außer wenigen Handschriften aus seiner Feder gibt, die seine Existenz beweisen”, schreibt sie. Eine Boccaccio-Biografie gleiche somit “einem großen Fresko, in dem ganze Teile fehlen”.
Fest steht, dass Boccaccio in einer dramatischen Krisenzeit lebte. Die Pest, der Beginn der Kleinen Eiszeit, Kriege in Italien, die Krise der Florentiner Banken: Das 14. Jahrhundert ähnelt in vielen Entwicklungen der Gegenwart. Das von Boccaccio der Pest abgetrotzte Decamerone erhielt durch die Corona-Pandemie eine ganz unerwartete Aktualität.
Meier rekonstruiert Boccaccios Kindheit in Florenz und die Folgen seiner unehelichen Geburt. Sie folgt ihm nach Neapel an den Hof von König Robert von Anjou, an die Höfe skrupelloser Alleinherrscher in der Romagna und in die Einsamkeit seines Alterssitzes Certaldo.
Boccaccio habe mittelalterliche Erzähltraditionen weiterentwickelt, sagt Meier. Im “Decamerone” – während der Pest fliehen sieben Frauen und drei Männer zehn Tage lang in ein Landhaus in den Hügeln von Florenz und unterhalten sich gegenseitig mit insgesamt 100 Geschichten – habe er die Novelle dann zur Kunstform erhoben: Psychologische Tiefe und subjektive Erfahrungswelt spielen eine Rolle.
Boccaccio legte dabei Wert darauf, in der Muttersprache zu dichten und in der Qualität trotzdem an die große Antike heranzureichen, schreibt die Autorin. Das “Decamerone” gilt so als Ursprung der italienischen Prosa.
Dieses Werk steht nicht allein. Denn Boccaccio war ein ungeheuer fleißiger Gelehrter. Gefeiert wird er auch als Mitbegründer des Humanismus, der die griechische Antike erstmals wieder im Original nach Italien brachte. Boccaccio untersuchte den griechisch-römischen Götterhimmel – und schuf damit eine fundamentale Sammlung antiker Mythologie. Zugleich verteidigte er die weltliche Dichtung gegen Kleriker, die antike Literatur als unmoralisch, eitlen Zeitvertreib und religiös gefährlich verdammten.
Meier verweist auf die Widersprüchlichkeit des Gelehrten: “Boccaccio, das ist der Verehrer edler Frauen und Verteidiger ihrer Rechte.” So habe er das Recht der Frauen auf eine eigene Stimme, den eigenen Körper, auf das Ausleben ihrer Sexualität formuliert. Zugleich sei er aber auch von Anfang an ihr Ankläger, der vor keiner bösen Unterstellung zurückschreckte. Er war der mitleidslose Satiriker der geldgierigen und heuchlerischen Kirchenleute – aber auch ein Mann, der die niederen Weihen annahm und sich zu Eremitenorden hingezogen fühlte.
Meier wendet sich gegen die teils bis heute übliche Tendenz der wenigen Biografen, Boccaccios Leben in zwei Phasen zu teilen: Vor 1350 der volkssprachliche Erzähler, der lebensfrohe, ja unmoralische Mann. Und nach 1350 der bußfertige Schriftsteller, der – durch die Freundschaft zu Francesco Petrarca – voller Reue auf seine sündhafte Jugend geblickt und sich dem Studium antiker Dichtung zugewandt habe.
Die Biografin verweist demgegenüber darauf, dass Boccaccio das “Decamerone” im späteren Leben weiter bearbeitet habe. “Wenige Jahre vor seinem Tod übertrug er es auf großformatige Pergamentblätter, so dass man es wie die Bibel oder die Göttliche Komödie auf einem Lesepult aufschlagen musste – und nicht unter der Bettdecke lesen konnte.” Der witzige, unanständige Geschichtenerzähler lebte also bis zum Schluss neben dem ernsten und gelegentlich moralinsauren Gelehrten.