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Blind Date ohne Worte

In Krisenzeiten wie der Coronavirus-Pandemie sehnen sich die Menschen nach persönlichen Begegnungen. Eine Musikprojekt aus Stuttgart nimmt dieses Bedürfnis auf. Am Wochenende startete das Format auch in Dresden – mit großem Erfolg.

Dresden (epd). Still ist es im Raum. Der Musiker und seine einzige Zuhörerin schauen sich eine Minute lang in die Augen. Es fällt kein Wort. Dann wehen die ersten Hornklänge durch die Dresdner Galerie. Susan Herlt sitzt etwa zwei Meter entfernt von dem Hornisten Zoltán Mácsai. Nach gut zehn Minuten ist das Konzert beendet. Die Frau bedankt sich mit einer Geste und geht – wieder ohne ein Wort zu sagen.

   Das Konzept dieser ungewöhnlichen Begegnungen heißt «1:1 Concerts», ein Solist oder eine Solistin spielen für jeweils nur einen Gast. In Corona-Zeiten ist das persönliche Livekonzert ein ideales Angebot für Fans klassischer Musik. Am vergangenen Wochenende haben es Mitglieder der Sächsischen Staatskapelle Dresden erstmals in der sächsischen Landeshauptstadt erprobt.

   Unter dem Slogan «Staatskapelle direkt» spielten sie für Einzelgäste in Kirchen, Galerien und in einem Cafe – ohne Gage. Freiwillige Spenden sollen in den Nothilfefonds der Deutschen Orchesterstiftung fließen.

   Zoltán Mácsai ist Solohornist bei der Staatskapelle, die für gewöhnlich in der Semperoper auftritt. Doch in der Corona-Krise ist alles anders. Seit zwei Monaten hat der Musiker kein öffentliches Konzert mehr gegeben. Wegen der Pandemie musste auch sein Orchester die Spielzeit vorzeitig beenden.

   Es sei eine große Herausforderung, nicht auftreten zu können. «Du hast kein Ziel», sagt der 34-jährige Mácsai. Trotzdem muss er täglich üben. Die Teilnahme bei den «1:1 Concerts» ist für ihn pure Freude. «Es ist schön, vor Publikum spielen zu dürfen», sagt er nach dem Solokonzert für Susan Herlt. Es sei natürlich ganz anders, als im Orchester zu musizieren. Auch so einen intensiven Blickkontakt könne er sonst nicht mit seinem Publikum austauschen.

   Tatsächlich ist es eine sehr intime Situation an diesem Nachmittag in der Dresdner Galerie Ines Schulz. Eine mit passendem Abstand in Corona-Zeiten und eine, die aufgesogen wird nach langer Abstinenz. Das «1:1 Concert» wirkt bei Zuhörerin Herlt spürbar nach: «Ich habe einen Genussmoment erlebt», sagt sie.

   Nichts habe sie abgelenkt. Es sei noch intensiver gewesen als ein Konzerterlebnis in der ersten Reihe der Semperoper. Trotzdem sei sie «absolut entspannt wie sonst nur nach anderthalbstündigem Yoga», erzählt sie. Das habe sie so nicht erwartet.

   «Ich habe die Töne richtig auf meinem Körper gespürt», sagt die 38-jährige Dresdnerin. Der Blickkontakt – das sei eine etwas andere Art der Kommunikation und Verabredung. Sie habe dabei gedacht: «Wir sind jetzt in den nächsten zehn Minuten zusammen. Das wird unser Erlebnis.»

   Der Zuhörer oder die Zuhörerin wissen vorher nicht, welche Stücke gespielt werden und auch nicht von wem. «Es ist, als würde man zu einer Verabredung gehen und nicht wissen, wen man trifft», sagt Herlt: «Man weiß gar nichts.» Erst zum Abschied bekommt die Zuhörerin ein Blatt Papier, auf dem die Musikstücke vermerkt sind.

   «Von jedem Gast geht eine andere Energie aus», sagt Thomas Eberhardt, Solo-Fagottist bei der Dresdner Staatskapelle und wie Mácsai frisch erprobter 1:1-Musiker. Er habe erst beim Blickkontakt entschieden, was er spiele, erzählt er nach seinen Auftritten.

   Die Idee für die coronatauglichen Face-to-Face-Konzerte kommt aus Stuttgart. Mitglieder des SWR Symphonieorchesters und des Staatsorchesters Stuttgart haben sie zuerst umgesetzt. «Wir haben das Konzept nach Dresden geholt», sagt Anke Heyn, Mitinitiatorin und Cellistin in der Dresdner Staatskapelle. Es sei eine Chance, wieder in Echtzeit zueinander zu kommen. Wie ihre Kollegen musiziert auch sie derzeit nur für sich und privat.

   Für sie gibt es bei diesem Projekt nur Gewinner: «Wir dürfen spielen, die Gäste sehnen sich nach solchen Momenten und die Spenden erfüllen einen guten Zweck.» Auch die «Vermieter» sind begeistert. Gastgeberin und Galeristin Ines Kübler-Schulz genießt das Wechselspiel von Bildern und Musik. Bei den Konzerten organisiert sie unter anderem das Ankommen der Gäste.

   Beim Auftaktwochenende in Dresden waren alle 1:1-Termine der 14 Orchestermusiker ausgebucht, wie Cellistin Heyn erzählt. Sie und ihre Kollegen wollen weitermachen. Mindestens zehn weitere Musiker und Musikerinnen der Staatskapelle haben ebenfalls ihre Bereitschaft signalisiert – zu persönlichen Livekonzerten in Corona-Zeiten.