Wer an Jonathan Swift denkt, denkt an „Gullivers Reisen“ – und wer an „Gullivers Reisen“ denkt, denkt an ein Kinderbuch. Der im Jahr 1726 veröffentlichte Roman wurde lange hauptsächlich dieser Sparte zugewiesen und nicht als das gesehen, was er ist: Eine bissige Satire, mit der Swift seiner Zeit den Spiegel vorhält. Der Roman verhalf dem Autor, der insgesamt 37 Bücher schrieb, zu Weltruhm. Ansehen, Erfolg und Einfluss – dafür hatte der am 30. November 1667 in Dublin geborene Swift Zeit seines Lebens gekämpft. Allerdings zielte er zunächst nicht auf eine schriftstellerische Karriere ab. Er hatte eine politische Laufbahn vor Augen.
Bereits kurz nach seiner Geburt wurde der junge Swift, dessen Vater wenige Monate zuvor gestorben war, unter unklaren Umständen von seiner Mutter getrennt. Seine Amme setzte mit ihm nach England über. Die ersten vier Jahre seines Lebens verbrachte Swift dort, nach seiner Rückkehr nach Dublin nahmen ihn Verwandte auf. Mit 14 begann er auf Wunsch seines Onkels an der Dubliner Universität ein Theologiestudium. Swift, dem ein messerscharfer Verstand nachgesagt wird, erwarb sich dort den Ruf eines Rebellen. Seinen Abschluss erhielt er am Ende „by special favour“ – gnadenhalber.
Es folgten verschiedene Anstellungen, Swift wechselte zwischen Irland und England hin und her. Er nahm Stellungen an, unter anderem als Sekretär des Diplomaten Sir William Temple, und gab sie – unzufrieden mit den Arbeitsbedingungen – wieder auf. Zugleich begann er, über das zu schreiben, was er täglich sah und erlebte, verarbeitete Missstände seiner Zeit. Nach einem weiteren Studium wurde er zum anglikanischen Priester ordiniert, 1713 schließlich zum Dekan der St.-Patrick‘s-Kathedrale in Dublin ernannt.
Seine literarische Karriere nahm mit dem 1701 anonym veröffentlichten Text „Dissensions in Athens and Rome“ ihren Lauf. Bereits zuvor hatte er unter anderem sein erstes größeres Werk „A Tale of a Tub“ (Tonnenmärchen), eine Satire über die christlichen Glaubenslehren, verfasst, das erst 1704 gedruckt wurde und ihm Anerkennung als Schriftsteller sicherte. Sein Streben um eine politisch einflussreiche Stel-lung blieb hingegen erfolglos. Stattdessen gab er zeitweise die Wochenzeitung der Tories „Examiner“ heraus und schrieb, zum Teil anonym, scharfzüngige Satiren, in denen er die gesellschaftlichen Zustände anprangerte.
Privat lebte der Autor mit Esther Johnson zusammen, die er Stella nannte. Neben dieser Beziehung hatte er eine langjährige Affäre mit Esther Vanhomrigh, von ihm Vanessa genannt. Der ehrgeizige Swift galt als reizbar und exzentrisch; gesundheit-lich war er angeschlagen, litt unter anderem an einer Mittelohrerkrankung, die Schwindel verursachte und später zu Taubheit führte. 1742 machte den damals 65-Jährigen ein Schlaganfall zum Invaliden, zudem litt er an Demenz. Am 19. Oktober 1745 starb Swift.
Bis heute literarisch unsterblich ist sein Roman Gullivers Reisen – weiten Teilen der Leserschaft jedoch nur in der gekürzten und seiner satirischen Spitzen beraubten Kinderbuchfassung bekannt. Darin entdeckt Lemuel Gulliver, erst Wundarzt später Kapitän, bei seinen Schiffsreisen zunächst Lilliput, das Land der Zwerge, bevor es ihn nach Brobdingnag ins Reich der Riesen verschlägt.
In der Originalfassung, die aus vier statt zwei Teilen besteht, landet Gulliver bei seiner dritten Reise unter anderem auf der fliegenden Insel Laputa, deren Einwohner sich ausschließlich den Wissenschaften, speziell der Mathematik und der Musik, verschrieben haben, bei ihren Forschungen jedoch nie zu brauchbaren Ergebnissen kommen. Im letzten Teil gerät Gulliver ins Land der „Houyhnhnms“ – einer hochzivilisierten Pferderasse, die sich ungebildete Menschen, sogenannte „Yahoos“, als Dienerschaft hält. Obwohl er gerne bleiben würde, muss Gulliver, da er selbst zu den „Yahoos“ gezählt wird, nach England zurückkehren.
Es gehört kein überragendes historisches Wissen dazu, in den beschriebenen Eigenschaften der jeweiligen Inselbewohner Swifts bissige Gesellschaftskritik zu erkennen, die unter seinen Zeitgenossen gefürchtet war – und ihm zeitweise sogar staatliche Verfolgung einbrachte. Ein Schuft, wer nun vermutet, dass es möglicherweise nicht dem Zufall geschuldet war, dass der Autor in der Kinderbuchecke landete.
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Bissiger Satiriker mit blühender Phantasie
Vor 350 Jahren wurde der Autor und anglikanische Priester Jonathan Swift geboren, Schöpfer des als Kinderbuch „Gullivers Reisen“ bekannten Werkes, das allerdings alles andere ist als harmlos
