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Bildungsexperte: Top-Noten im Abitur verlieren an Aussagekraft

Quote statt Qualität? Der frühere Lehrerverbandspräsident Josef Kraus sieht das deutsche Abitur auf dem absteigenden Ast. Er fordert eine Debatte über Niveau, Noten und Vergleichbarkeit.

“Der Mensch beginnt nicht mit dem Abitur”, das betont der langjährige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus. In den vergangenen Jahren seien die Abitur-Ansprüche heruntergefahren worden, schreibt Kraus in einem Gastbeitrag in der “Welt am Sonntag”. Die Wissenslücken seien mitunter so groß, dass auch “Liftkurse” an den Hochschulen sie nicht schließen könnten. Zugleich sei der Fachkräftemangel auch eine Folge “des Wegbrechens der beruflichen Bildung”.

Kraus warb für mehr Wettbewerb unter den Bundesländern. “Warum sollte ein Land B mit anspruchsvollen Abiturplänen nicht eines Tages sagen: ‘Ihr da im Land A, euer anspruchsloses Abitur erkennen wir demnächst nicht mehr an.’ Dann käme Leben in die Abiturbude.” Ein bundeseinheitliches Abitur würde dagegen zu einer weiteren Nivellierung führen, warnte der Psychologe.

Derzeit tendierten die durchschnittlichen Abiturnoten in Richtung 2,2 oder 2,1, schreibt Kraus weiter – früher sei 2,0 ein Spitzenabitur gewesen. Durch diese Entwicklung reiche selbst ein 1,0-Abitur oft nicht mehr für die Bewerbung um einen Medizinstudienplatz. “Die Inflation der Top-Noten ist zudem unfair gegenüber denjenigen, die auch bei strengen Maßstäben eine 1,0 erreicht hätten.” Wenn sich der Trend fortsetze, würden Universitäten verstärkt auf Zugangsprüfungen setzen.

Die Kultusministerkonferenz setze allein bei der Abiturprüfung an, kritisierte der Experte. Die bestehenden einheitlichen Prüfungsanforderungen sowie ein “Aufgabenpool”, aus dem sich die Bundesländer für die Abiturprüfungen bedienen können, seien “nicht viel mehr als Schaufensterpolitik”, da es für die vorigen zwei Jahre kaum gemeinsame Standards gebe. “Zu oft wird vergessen, dass zwei Drittel der Abiturnote eben aus den Leistungen der letzten beiden Schuljahre bestehen.” Auch in diesem Zeitraum brauche es anspruchsvollere Regelungen.