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Berlinale-Filme loten die Abgründe menschlicher Identität aus

Jenseits aller politischen Debatten beweist das Berliner Filmfestival, dass das Kino die richtigen Fragen stellen kann – wenn es sich treu bleibt.

Wofür willst du leben? Wofür würdest du sterben? Seit seinen Anfängen ist der Film eine moralische Anstalt; wie die Bühne kann auch die Leinwand zentrale ethische Fragen verhandeln. Das beweist die Berlinale jährlich neu: Zurecht gelten die Berliner Internationalen Filmfestspiele als das politische unter den großen Filmfestivals. Oft geht es hier um das große Ganze, und oft genug drängt die Moral die Ästhetik in den Hintergrund.

Das ist dann gut gemeint wie etwa “Small Things Like These” (Kleine Dinge wie diese), der von Tim Mielants inszenierte Eröffnungsfilm des Festivals. Darin leistet ein wortkarger Kohlenhändler (Cillian Murphy) Widerstand gegen das Böse in Gestalt der katholischen Kirche. Alles ist eindeutig, und so verhakt sich das Filmfest schon an seinem ersten Abend in dem alten Grundwiderspruch von Ethik und Ästhetik: Hier steht das Kino für das einwandfrei Gute ein; ob es dann noch gutes Kino ist, bleibt sekundär.

Zum Glück widersetzen sich, auch auf der Berlinale, viele Filme dem Primat der Moral. Als besonders visionär erweisen sich dabei Geschichten, die in der Zukunft spielen oder ihre Protagonisten auf andere Weise mit neuen, ungekannten Bedingungen konfrontieren. In der Begegnung mit dem Unwahrscheinlichen räsoniert das Kino über die Grenzen des Menschen. An diese Grenze kommt auch der von Sebastian Stan gespielte Schauspieler Edward in “A Different Man”, Aaron Schimbergs bewegendem Wettbewerbsbeitrag aus den USA.

Seit seiner Kindheit leidet Edward an einer entstellenden Krankheit. Fremde sehen ihn als Monster an; er hat sich an das Leben im sozialen Schlagschatten gewöhnt, bis ihm sein Arzt ein innovatives Verfahren anbietet. Tatsächlich wird Edward geheilt; die Türen zu einem normalen Leben stehen offen, Liebe inklusive. Doch statt zu den anderen zu finden, entfernt sich Edward immer weiter von sich selbst. Schimberg erzählt die Geschichte einer Befreiung als die Tragödie einer radikalen Entfremdung mit melancholisch stimmendem Ausblick.

Auch Piero Messinas Wettbewerbsbeitrag “Another End” erkundet die Abgründe menschlicher Identität: Was als Utopie angelegt ist, erweist sich als technoide Dystopie. Es ist möglich geworden, die Erinnerungen Verstorbener zu konservieren und auf andere Menschen, sogenannte Hosts, zu übertragen. So haben die Hinterbliebenen die Gelegenheit, in aller Ruhe Abschied von ihren Lieben zu nehmen.

Auf Anraten seiner Schwester versucht Sal, seine bei einem Unfall gestorbene große Liebe Zoe-Ava wiederzutreffen – im Körper einer anderen Frau. Es kommt, wie es kommen muss: Er verliebt sich in diese Frau, und sie scheint seine Gefühle zu erwidern. Doch was ist real? Der Film lässt an die berühmte Wendung am Ende von Ridley Scotts “Blade Runner” (1982) denken: der blinde Fleck im Auge des Aufklärers.

Gerade im Science-Fiction-Genre stellt sich das Kino infrage: Der Blick, den es etabliert, kann sich als Irrtum oder Täuschung herausstellen. Das macht das Genre so philosophisch. Bruno Dumont erlaubt sich in seiner Groteske “L’Empire”, dieses Vexierspiel aufzunehmen, um sich darüber lustig zu machen. In einem Fischerdorf in Nordfrankreich kommt es zum finalen Kampf von Gut und Böse.

Furios fährt Dumont auf, was an Ironie, Witz, Sarkasmus, Nonsens, Satire, Persiflage und Nihilismus zur Hand ist. Wäre das Ergebnis purer Klamauk, wäre das genial. Angesichts der Me-Too-Debatten im französischen Kino bleibt es allerdings unverständlich, dass ein Film, dessen Protagonistinnen vor allem jung, willig und mehr oder weniger nackt daherkommen, im Wettbewerb eines angeblich politischen Festivals läuft.

Zum Glück nimmt Dumonts Landsmann Jeremy Clapin das Nachdenken über höhere Mächte ernster. In “Pendant ce temps sur Terre” (Währenddessen auf der Erde), der im “Panorama” läuft, trauert Elsa (Megan Northam) um ihren Bruder Franck, der von einer Weltraummission nicht zurückgekommen ist. Dann nehmen Außerirdische mit ihr Kontakt auf und versprechen das Unfassbare: Franck kann heimkehren, wenn Elsa tut, was von ihr verlangt wird. So setzt sich ein Geschehen in Gang, das mehr ist als eine Abfolge äußerer, zum Teil blutiger Ereignisse.

Was den bis zuletzt spannenden Film sympathisch macht, ist die Sorgfalt, mit der sich das Nachdenken über die Conditio humana in Elsas Gesicht, in ihrem Fühlen und Handeln niederschlägt. Gerade weil sie aus Liebe agiert, erfährt sie, was es heißen kann, auf dieser Erde zu leben und nicht moralisch, sondern wahrhaft menschlich zu handeln. Am Ende kann das auch politisch werden, wie das eben so ist, wenn das Kino seine große, schwierige Kunst entfaltet, einfache Geschichten zu erzählen.