Eigentlich sind Streamer mit dem Versprechen auf mehr Entscheidungsfreiheit angetreten. Doch immer mehr Kunden wollen sich berieseln lassen. Darauf reagiert der Markt – mit einer Rückkehr zum linearen Fernsehen.
Als Netflix im April 2022 an nur einem Tag an der Börse 54 Milliarden Dollar an Marktkapitalisierung verlor, weil Analysten ein langsameres Abonnentenwachstum voraussagten, war das wohl ein Signal für die gesamte Branche. Seitdem haben sich alle Streaminganbieter breiter aufgestellt und ihr Angebot stark erweitert – etwa mit Werbung, Live-Übertragungen sowie linearen Programmen, ähnlich denen aus der “alten” Fernsehwelt. Im April hat Amazon Video den Sender “Prime” gestartet, was nach Angaben des Prime Video Chefs in Deutschland, Christoph Schneider, alle Erwartungen übertroffen habe: “Bereits in der ersten Woche hatte der Sender beinahe doppelt so viele Zugriffe erhalten wie unser erfolgreichster FAST-Channel in einem Monat. Wir erwarten, dass der Zuspruch für diesen neuen, kostenlosen Service für Prime-Mitglieder weiterwachsen wird.”
Der neue Sender biete Highlights aus dem On-Demand Angebot von Prime Video in einem linearen Programmangebot “rund um die Uhr”. Blockbuster-Filme und -Serien werden in die Prime Time programmiert, während zu “jeder Tageszeit ein Best-of-Angebot” von Prime Video, darunter derzeit Serienhighlights wie “Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht”, Shows wie “LOL” und Filme wie Sebastian Fitzeks “Der Heimweg” gezeigt würden.
“Mit dem Sender schließen wir eine Lücke im umfangreichen Angebot von Prime Video. Prime Video bietet jetzt nicht nur die umfangreichste Auswahl an Filmen, Serien und mehr, sondern auch einen Kanal, auf dem sich dieses vielfältige Angebot rund um die Uhr sehen lässt”, so der Deutschland-Direktor. Der Kundschaft soll dadurch ermöglicht werden, “sich so zurücklehnen und einen Programmvorschlag machen lassen, wenn sie mal selber keine Entscheidung treffen wollen.”
Weitere Elemente der klassischen TV-Welt, die Videoplattformen immer mehr verwenden, sind Live-Übertragungen. Die Eventisierung von beispielsweise Unterhaltungsformaten durch Live-Ausstrahlungen, ein wichtiges und attraktives Element in linearen Programmen, ist nicht nur in der Sicht von Oliver Fuchs von der Produktionsfirma Fabiola der “emotionale Kicker”, den jetzt auch die Streamer einsetzen: “Die Mechanik dahinter ist eigentlich altbekannt – sie wird jetzt nur digital neu interpretiert.”
Die Live-Angebote im Sportbereich wiederum spielen besonders bei Netflix inzwischen eine große Rolle. Netflix-Chef Ted Sarandos kann sich gar vorstellen, eines Tages den “Super Bowl”, das Mega-Live-Ereignis in den Vereinigten Staaten, zu übertragen. “Mit dem Boxkampf zwischen Jake Paul und Mike Tyson haben wir gezeigt, dass wir ein Event in dieser Größenordnung stemmen können”, sagte der Manager kürzlich in einem Interview der US-Fachzeitschrift “Variety”.
Eine Abkehr vom bisherigen Markenkern der Streamer kann Schneider in solchen Strategien nicht erkennen: “Ganz im Gegenteil, der Prime-Sender erweitert vielmehr den Service bei Prime Video.” Im Live-TV-Bereich der Prime-Video-App sähen Kunden bereits alle öffentlich-rechtlichen Kanäle von ARD und ZDF sowie zahlreiche FAST-Channels – “und jetzt eben auch einen Rund-um-die-Uhr Kanal mit dem Besten von Prime Video.” Prime Video bleibe das zentrale Unterhaltungsangebot: “Prime-Kunden können sich quasi ihr Menü individuell zusammenstellen.”
Der Hinweise von Schneider, dass über das Angebot noch Zusatzkanäle wie Apple+, Paramount+ oder DAZN abonniert werden können, beschreibt ebenfalls ein Novum. Teilweise erheblich kostengünstiger können in einem Paket über einen Streamer weitere eigentlich konkurrierende dazu gebucht werden. In den USA sind das jetzt schon Disney+, Hulu und Max als Komplettangebot oder auch Apple, Peacock und Netflix über Comcast.
Auch für Europa sind solche Angebote in Vorbereitung. Über den Telekom-Dienst MagentaTV etwa sind bereits Disney+, Netflix, Apple TV+, DAZN, Paramount+ und Wow erhältlich. Früher wäre das unter diesen rivalisierenden Unternehmen undenkbar gewesen. Und damit vollzieht sich hier eine Entwicklung wie zuvor in der Musikindustrie. Das Publikum möchte nicht bei zahlreichen Anbietern suchen müssen, um die gewünschten Inhalte zu schauen.
“Auch in Deutschland ist der Trend zur Bündelung nicht zu übersehen”, bestätigt Jaanika Junston vom Londoner Marktforschungsunternehmen Ampere Analyses, “die seit rund fünf Jahren bestehende Partnerschaft zwischen der Deutschen Telekom und RTL+ wurde Anfang des Jahres um weitere fünf Jahre verlängert, was den gegenseitigen Nutzen für die Streaming-Plattform und das Telekommunikationsunternehmen unterstreicht.”
In ähnlicher Weise hätten waipu.tv und Joyn Plus+ Anfang des Jahres ein neues “Bundle” eingeführt und damit zur Aggregationswelle auf dem deutschen Markt beigetragen. Laut den Marktforschern von Ampere hat in den USA Pay-TV-Anbieter Starz Anfang des Jahres gleich mehrere bemerkenswerte Pakete auf den Markt gebracht, darunter Partnerschaften mit Max (ehemals HBO Max) sowie BET+ auf Prime Video und AMC+ auf Vizio. In Frankreich, so Junston, startete Max außerdem eine “einzigartige” Partnerschaft mit “Le Monde”, einer der führenden Zeitungen des Landes, und dem Kulturmagazin Télérama.