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Bei aller Liebe

Die lebenslange Enthaltsamkeit für Prieser, der Zölibat, wird wieder zum Thema. Der früherer Benediktinerabt Anselm Bilgri plädiert für eine Freigabe

Frederic Soreau/CIRIC/KNA

Selbst der Autor Anselm Bilgri musste zu dem Thema erst überredet werden. Ein Buch über den Zölibat? Das sei doch ein „ausgelutschtes Thema“, meinte der ehemalige Benediktinermönch. Doch seit das Werk in der ersten Septemberwoche auf den Markt kam, sind die Zeitungen voll davon, und auch bei Funk und Fernsehen ist Bilgri als Interviewpartner gefragt. „Bei aller Liebe“ lautet der Titel, und gewidmet hat es der prominente Autor den „fratribus caelibatu oppressis“, den unter dem Druck des Zölibats leidenden Mitbrüdern.
Schon im Vorwort lässt der langjährige Prior von Kloster Andechs den Leser jedoch wissen, dass er keine Bettgeschichten auspacken wird. „Ich sehe keinen Grund dafür, mich, Mitbrüder in den Orden oder Priester im Dienst von Diözesen zu outen, gleich ob hetero- oder homosexuell.“ Die aufgeführten Fälle hat sein Co-Autor und Journalist Gerd Henghuber zusammengetragen. Sie sollen exemplarisch zeigen, wie das Gebot der Ehelosigkeit für Menschen im Dienst der Kirche zur Last wird.

Das Gebot der Ehelosigkeit kann zur Last werden

Bilgri ist denn auch überzeugt, dass die katholische Kirche den Zölibat jetzt freigeben müsse.
1139, beim Zweiten Lateran-Konzil, wurde es Kirchengesetz, dass wer verheiratet ist, nicht Priester werden kann, und wer zum Priester geweiht wurde, nicht heiraten kann. Ein enthaltsames Leben – das ist eigentlich Teil des Gesamtpakets, zu dem sich zunächst die Ordensleute verpflichteten, einschließlich Armut und Gehorsam. Die Praxis zeigte jedoch über die Jahrhunderte, dass der Zölibat „genügend oft nicht gehalten wurde“. Bilgri schätzt, dass heute vielleicht ein Drittel der Priester ihn wirklich lebt.
Der Zölibat dürfte auch einer von mehreren Gründe sein, warum immer weniger Männer den Beruf des Priesters erstrebenswert finden, ist Bilgri überzeugt. Mit Papst Franziskus glaubt der einstige Mönch nun ein Zeitfenster geöffnet, in dem sich etwas ändern könnte. „Realität kommt vor dem Ideal“, habe das Kirchenoberhaupt in dem Apostolischen Schreiben  „Evangelii Gaudium“ geschrieben. Vielleicht werde ja mit der Amazonas-Synode im Jahr 2019 etwas angestoßen, so Bilgri – schließlich seien die Bischöfe Südamerikas aufgefordert worden, „phantasievolle Vorschläge“ zu erbringen.
In welche Konflikte Priester mit ihrer Sexualität stürzen, damit sieht sich Joachim Reich in seiner Berliner Privatpraxis für Klinische Sexologie konfrontiert. Der frühere Dominikaner und langjährige katholische Pfarrseelsorger, der inzwischen der anglikanischen Kirche angehört, spricht aus eigener Erfahrung. Als er einst in seiner Not einen Psychiater aufsuchte, hörte der ihm zwar zu, fragte aber nur, warum er nicht einfach alles hinter sich lasse. Aber so einfach ist das nicht, wenn die Betroffenen an ihrer Kirche hängen, ihre Arbeit gern machen. Das versteht oftmals eben nur, wer selber Teil ist.

Und wenn man die Kirche und einen Menschen liebt?

Doch es mangelt an Anlaufstellen. Eine der bekannteren ist das Recollectio-Haus, Teil des Klosters der Missionsbenediktiner von Münsterschwarzach. Grundsätzlich begrüßt Reich diese Einrichtung, doch auch hier werde nach außen nicht die Problematik Zölibat angesprochen, sondern auf der Internetseite werde eingeladen, „wer über sein Leben nachdenken will“. Das laufe dann mehr unter dem Stichwort „Burnout“. Der Psychotherapeut spricht von Doppelmoral im Klerus, denn das Problem sei auf der Leitungsebene längst bekannt. Auch Bilgri hat beobachtet, dass Bischöfe privat über den Zölibat ganz anders sprächen als öffentlich.
Reichs Hypothese lautet, dass die Kirche den „Kollateralschaden“ rund um den Zölibat deshalb in Kauf nehme, weil der Schaden noch viel größer wäre, wenn er aufgehoben würde. Denn dann müsste auch die Sexualmoral grundlegend korrigiert werden, die bisher eine „reine Ehemoral“ sei, erklärt er: Alles, was nicht in der Ehe stattfinde, sei nämlich „schwer sündhaft“. In der Folge hätte man sich auch mit der „Ehe für alle“ zu arrangieren und die Frage nach dem Frauenpriestertum käme ebenfalls auf. Bilgri indes sagt, es ärgere ihn, dass sich „unsere Leute“ so viele Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) das alles gefallen ließen.