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Aus dem Hinterhausversteck in die Welt

Vor 75 Jahren am 12. Juni schrieb das jüdische Mädchen Anne Frank die ersten Sätze in ihr Tagebuch

Eigentlich war es ein Poesiealbum. Fast quadratisch, mit rot-weiß-kariertem Stoffeinband und einem Verschluss auf der Vorderseite. Das Tagebuch der Anne Frank. Das jüdische Mädchen hatte es zum 13. Geburtstag von ihren Eltern geschenkt bekommen. Vor 75 Jahren, am 12. Juni 1942, schrieb sie ihren ersten Eintrag: „Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein.“
Anne Frank war 1934 mit ihren Eltern und ihrer Schwester aus ihrer Heimatstadt Frankfurt am Main in die Niederlande ausgewandert, nachdem die Nationalsozialisten 1933 die Macht ergriffen hatten. In Amsterdam tauchte die Familie unter, als Annes Schwester Margot im Juli 1942 einen Aufruf für die Depor­tation in das Lager Westerbork erhielt, einem Durchgangslager für Juden in Holland. Gut zwei Jahre versteckten sie sich zusammen mit der Familie van Pels und dem Zahnarzt Fritz Pfeffer in einem Hinterhaus des Firmengebäudes ihres Vaters Otto Frank in der Prinsengracht 263.
Was Anne dort ihrem Tagebuch anvertraute, gehört zu den erschütterndsten Berichten über die Judenverfolgung in der NS-Zeit. Adressat ist eine imaginäre Freundin: „Liebe Kitty! Zwischen Sonntagmorgen und jetzt scheinen Jahre zu liegen. Es ist so viel geschehen, als hätte sich plötzlich die Welt umgedreht“, schrieb sie am 8. Juli 1942. Ihr letzter Eintrag datiert vom 1. August 1944. Am 4. August 1944 wurde das Versteck aufgespürt, alle dort Untergetauchten wurden verhaftet. Anne starb Anfang 1945 im KZ Bergen-Belsen – mit gerade 15 Jahren.
Anne Frank muss man sich als sehr lebenslustiges, gar nicht braves Mädchen vorstellen. Sie stellte alles und jeden infrage, beobachtete und beschrieb die Menschen in ihrer Umgebung genau, mit Witz und scharfer Zunge. Sie schrieb über ihre Träume, ihre Sehnsüchte, über die Liebe.
Zugleich dachte sie über die Widersprüchlichkeit ihres Charakters nach: „Die eine Seite beherbergt meine ausgelassene Fröhlichkeit, die Spöttereien über alles, Lebenslustigkeit und vor allem meine Art, alles von der leichten Seite zu nehmen. Darunter verstehe ich, an einem Flirt nichts zu finden, einem Kuss, einer Umarmung, einem unanständigen Witz. Diese Seite sitzt meistens auf der Lauer und verdrängt die andere, die viel schöner, reiner und tiefer ist.“
Zunächst hatte Anne gar keine großartigen schriftstellerischen Ambitionen, wie sie am 20. Juni 1942 schreibt, einem Samstag: „Es ist für jemanden wie mich ein eigenartiges Gefühl, Tagebuch zu schreiben. Nicht nur, dass ich noch nie geschrieben habe, sondern ich denke auch, dass sich später keiner, weder ich noch ein anderer, für die Herzensergüsse eines dreizehnjährigen Schulmädchens interessieren wird.“
Doch im Frühjahr 1944 hörte sie im Radio aus London eine Rede des niederländischen Erziehungsministers. Er riet dazu, nach dem Krieg alles über die schwere Zeit des niederländischen Volkes während der deutschen Besatzung zu publizieren, etwa Tagebucheinträge. In diesem Moment – so Historiker – entschied sich Anne, nach dem Krieg ein Buch zu veröffentlichen. Am 5. April 1944 schrieb sie: „…werde ich jemals etwas Großes schreiben können, werde ich jemals Journalistin und Schriftstellerin werden? Ich hoffe es, ich hoffe es so sehr! Mit Schreiben kann ich alles ausdrücken, meine Gedanken, meine Ideale und meine Phantasien.“
Doch nur ihr Vater überlebte als einziges Familienmitglied den NS-Terror. Er veröffentlichte schließlich 1947 das Tagebuch seiner Tochter. In einem ihrer letzten Einträge vom 15. Juli 1944 beschreibt Anne eine Art Todesahnung: „Ich sehe, wie die Welt langsam immer mehr in eine Wüste verwandelt wird, ich höre den anrollenden Donner immer lauter, der auch uns töten wird, ich fühle das Leid von Millionen Menschen mit.“ Doch trotzig fährt sie fort: „Und doch, wenn ich zum Himmel schaue, denke ich, dass sich alles wieder zum Guten wenden wird, dass auch diese Härte aufhören wird, dass wieder Ruhe und Frieden in die Weltordnung kommen werden.“
Ihr Tagebuch wurde zu einem Werk der Weltliteratur, übersetzt in  mehr als 70 Sprachen und 30 Millionen Mal verkauft.