Psychodrama von 2022 um eine leidenschaftliche Bergsteigerin aus dem Tessin, die einen Terroranschlag überlebt und einen mühsamen Prozess startet, um sich wieder aus ihrer Schockstarre lösen zu können.
In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:
Die kletterbegeisterte Studentin Allegra (Matilda De Angelis) wird während eines Trekkingausflugs in Marokko Opfer eines Terroranschlags, bei dem ihre drei besten Freunde ums Leben kommen. Sie kehrt traumatisiert in die Schweiz zurück und versucht mühsam, im Leben und beim Bergsteigen wieder Tritt zu fassen.
Das Psychodrama von Niccolo Castelli nähert sich dem steinigen Weg bei der Bewältigung ihres Traumas und der körperlichen Heilung einfühlsam und in Erzählsprüngen, in denen sich die zersplitterte Wahrnehmung der Hauptfigur spiegelt.
Der emotionale Kraft- und Balance-Akt des Films setzt auf starke visuelle Kontraste und profitiert auch von einer wandelbaren Hauptdarstellerin.
L A N G K R I T I K
Allegra heißt die Protagonistin von Niccolo Castellis “Atlas” von 2022. Die Tessinerin lebt in Lugano und arbeitet als Schaffnerin bei der Schweizerischen Bundesbahn. Ihr Name bedeutet auf Italienisch “die Fröhliche”, “die Lebhafte”. Er passt gut zu der lebenslustigen jungen Frau, die man am Anfang des Filmes während einer Klettertour kennenlernt.
Sie ist mit ihrem Freund Benni, ihrer besten Freundin Sonia und deren Partner Sandro in den Alpen unterwegs. Die Freude über einen nächsten erklommenen Gipfel steht ihnen bei strahlendem Sonnenschein ins Gesicht geschrieben. Sie träumen von Gipfelstürmerei in fernen Ländern.
Die nächste Szene, dunkelgrau, -grün und -blau gehalten, zeigt Allegra versehrt in einem düsteren Zimmer. Wie viel Zeit zwischen den beiden Szenen liegt, verrät sich dem Zuschauer nicht. Und was sich dazwischen ereignet hat, erfährt er erst im Laufe der Erzählung. Diese Auslassung ist eine sorgfältig getroffene Entscheidung des Regisseurs: Castelli geht es nicht um die Darstellung eines erschütternden Ereignisses, sondern um den beschwerlichen Weg der Heilung, den seine traumatisierte Protagonistin zu gehen hat.
Castelli zeigt diesen Weg Allegras als ein langsames, tastendes Auftauchen aus dem Halt- und Bodenlosen körperlicher, vor allem aber auch psychischer Versehrtheit: Trauer und Ohnmacht, Angst, Verzweiflung, Schmerz, genährt von der Einsicht, dass das eigene Leben fortan ein anderes ist.
Castelli erzählt in zahllosen, zum Teil abrupten Sprüngen: Wenn ein Mensch durch einen gewaltsamen Akt aus seiner Bahn geworfen wird, gerät der Begriff der Zeit ins Schleudern. Wahrnehmungs- und Realitätsebenen beginnen sich zu verschieben. Beobachtungen in der Gegenwart rufen bisweilen Erinnerungen an das Moment des Schreckens oder aber an die glückliche Zeit davor wach. Das Erinnerte erscheint dabei so real wie die aktuelle Gegenwart.
Zu Grunde liegt “Atlas” ein reales Ereignis: Im Mai 2011 kamen bei einem Terroranschlag auf ein Touristen-Cafe in Marrakesch drei Mitglieder einer vierköpfigen Reisegruppe aus dem Tessin ums Leben. Castelli, der zusammen mit Stefan Pasetto auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, hat die einzige überlebende Tessinerin damals getroffen und mit ihr über ihre Schwierigkeiten gesprochen, ins Leben zurückfinden. Zwei Jahre später – noch bevor das sich davor in Sicherheit wiegende Europa von 2015 bis 2017 durch Terroranschläge aus seinem Dornröschenschlaf geweckt wurde – ahnte Castelli, dass “etwas in unseren Alltag einzieht, das uns nicht mehr loslassen wird: die Angst.”
“Atlas” folgt lose der Chronik der Ereignisse. Nach ihrer Rückkehr aus Marokko lebt Allegra bei ihren Eltern auf dem Dorf. Nach einigen Monaten zieht sie wieder zu Giulia, mit der sie bereits vor ihrer Reise in einer Wohnung über einer alternativen Bar in Lugano wohnte. Sie beginnt wieder zu arbeiten, als Verkäuferin am Ticketschalter. Und sie geht regelmäßig zur Physiotherapie, wo sie nicht nur Beweglichkeit, Kraft und Ausdauer zurückzugewinnen versucht, sondern auch ihr physisches und psychisches Gleichgewicht.
Eingestreut in diese Erzählung der Heilung finden sich intime Momente der Selbstfindung: Allegras Auseinandersetzung mit dem eigenen vernarbten Körper vor dem Spiegel. Oft zufällige Begegnungen mit alten Freunden und Bekannten. Irgendwann ein Besuch bei Bennis Vater und mehrere Gespräche mit Sonias Vater. Nach Monaten schließlich ein Besuch in der Berghütte, in der sie sich früher zusammen mit Sonia wie zuhause fühlte.
Nicht zuletzt dann die zögerliche Annäherung an den arabischstämmigen Musiker Arad, der Allegra in Lugano eines Tages zufällig begegnet, und von dem sie sich gleichzeitig so angezogen, wie zwischendurch abrupt abgestoßen fühlt.