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Arte-Dokuserie überprüft Mythen und Fakten der Zeitgeschichte

Artes Online-Dokuserie “Stimmt es, dass …?” surft durch ungefähr alle menschheitsgeschichtlichen Epochen zwischen Jungsteinzeit und Zukunft – und bleibt dabei bemerkenswert zeitlos.

“Ja, das stimmt”, sagt zwar eine Historikerin gleich am Anfang der Startfolge der fürs Internet konzipierten Geschichts-Dokuserie “Stimmt es, dass …? – Geschichte neu entdeckt”. Doch erledigt ist die Frage “Stammt die Demokratie aus Griechenland?”, die der Folge den Titel gibt, damit natürlich längst noch nicht. Zu Bildern von Touristen aus aller Welt, die die Akropolis oder eher sich selbst als Selfie davor fotografieren, erläutert die Althistorikerin Charlotte Schubert gravierende Unterschiede zwischen der heutigen Demokratie und der antiken.

Mehr mit heutigen Formen zu tun haben dürfte die “wohl älteste noch existierende Demokratie der Welt”, bei den (einst als Irokesen bekannten) Haudenosaunee in Nordamerika. Dort etwa waren Frauen immer mindestens gleichberechtigt. Wenn der US-amerikanische Politikwissenschaftler David Stasavage dann sagt, dass “viele Gesellschaften unabhängig voneinander” die heutigen Demokratie-Praktiken entwickelt hätten, etwa das Prinzip repräsentativer statt unmittelbarer Teilhabe, kommen weitere Fragen auf, die der 25-Minüter am Ende antippt. Stimmt etwa die anfängliche Aussage, dass “beinahe die halbe Menschheit mittlerweile in Demokratien” lebt, oder ist die Demokratie nicht eher auf dem Rückzug? Stoff zum Weiterdenken bietet “Stimmt es, dass …?” auf alle Fälle.

Die acht gut 25-minütigen Folgen der Arte-Reihe sind von unterschiedlichen Autoren gemacht. “Haben wir schon immer an Götter geglaubt?”, interessiert sich für Animismus der frühesten Jäger-und-Sammler-Gesellschaften und dafür, wie die “Theorie der übernatürlichen Beobachtung” immer wichtiger wurde. Es liegt daran, dass die dadurch geschaffene Moralität großen Gesellschaften zum evolutionären Vorteil gereichte, erläutert der Kulturanthropologe Benjamin Purzycki.

Wobei die Kriterien und Fallhöhen bis heute schwanken: Bei Mord und Diebstahl waren sich alle Religionen weitgehend einig, bei Ehebruch und Schweinefleisch weniger. Heute noch wichtige Religionen seien das “Produkt von Jahrtausenden kultureller Evolution” und “erstaunlich flexibel”, was laut Purzycki auch Chancen für die Zukunft bietet.

Die Folge “Haben wir früher mehr geschuftet?” nimmt menschheitsgeschichtliche Etappen von der Nutzung des Feuers als erster nicht-menschlicher Energiequelle über die Entstehung der Landwirtschaft bis zur industriellen Revolution sehr viele Jahrhunderte später in einen ähnlich weiten Überblick. Spielen inzwischen vor allem “unser rätselhaftes Bedürfnis nach neuen Bedürfnissen” und das Gefühl, “gesellschaftlichen Wert ständig durch Arbeit beweisen zu müssen”, Hauptrollen, oder trifft es die Realität nicht ganz, wenn Akademiker sagen, dass es vor lauter Produktivität “nicht mehr viel Arbeit zu erledigen gibt”? Dass unbezahlte Arbeit, wie sie vor allem von Frauen geleistet wurde und oft weiterhin geleistet wird, ebenfalls zum Themenfeld gehört, wurde zumindest angeschnitten und damit deutlich gemacht.

Die Frage “War die Pest die größte Seuche aller Zeiten?” verdient als Antwort ein klares “Jein”, lernt man: In absoluten Zahlen ihrer Todesopfer war die Spanische Grippe, der ab 1918 mindestens 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen (und die dennoch bis zur Corona-Pandemie ziemlich vergessen war), verheerender. Allerdings hatte die mittelalterliche Pest nicht nur mittelfristig das mittelalterliche Weltverständnis ausgehebelt, sondern die halbe (damals freilich noch deutlich kleinere) Menschheit ausgelöscht.

Zumal, wenn man die weitere mittelbare Folge der europäischen “Entdeckung” Amerikas berücksichtigt. Mindestens zwei Drittel der 60 bis 80 Millionen Menschen, die in ebenfalls über Jahrtausende gewachsenen Zivilisationen auf diesem Kontinent gelebt hatten, überlebten die Begegnung mit aus Europa importierten Keimen und Krankheiten nicht. Das war “die größte demografische Katastrophe der Menschheitsgeschichte”, sagt der Journalist Charles Mann.

Die von Arte Deutschland produzierte Dokuserie surft auf immer überraschende, dabei nie allein kuriose, sondern aufschlussreiche Weise sowohl durch viele Jahrtausende als auch über mehrere Kontinente. Eurozentrische Perspektiven nimmt sie nicht ein, ohne aber zu vergessen, dass Arte der europäische Kultursender ist. Launig kommentiert sind die Filme und mit unterschiedlichen Animationen so flott bebildert, wie es auf Streamingportalen noch üblicher als im klassischen Fernsehen ist. Die Themensetzung erscheint bemerkenswert zeitlos – wie sich insbesondere zeigt, wenn deutlich wird, dass die Folgen mit Vorlauf, also nicht erst im Frühjahr 2025 produziert wurden.

In manchen Animationen am Rande taucht etwa noch Olaf Scholz als deutscher Regierungschef auf. Donald Trump gerät zwar ins Bild, aber nicht mit Entscheidungen seiner umso umstritteneren zweiten Präsidentschaft, die zu manchen Themen gepasst hätten. Dass das Konzept, nahe an der Gegenwart und der offenen Zukunft zu sein aufgeht, zeigt sich auch in der Folge mit dem missverständlichen Titel “Hat Hitler die Autobahn erfunden?”.

Hat er nicht, zeigen deutsche Dokus immer mal wieder. Der Diktator nutzte zuvor erstellte Planungen der “HaFraBa”, des Autobahnprojekts Hansestädte-Frankfurt am Main-Basel von 1929, zur Propaganda. Vor allem um deren Geschichte geht es in der Folge.

Beim Zusammenhang von Kriegen und Propaganda im späteren 20. Jahrhundert bemüht die Folge dann Noam Chomskys nurmehr selten erwähnte, aber überzeugende Fünf Filter-Theorie der Massenmedien. Freilich, soziale Netzwerke und Strategien wie Steve Bannons “Flood the Zone with Shit” hatte Chomsky nicht vorhersehen können. Historisch betrachtet hätten neue Medien die Menschen zwar immer erst überfordert, zum Glück aber nie sehr lange, heißt es weiter. Zur Problematik, ob und wie schnell Nutzer auch Propaganda in sozialen Medien zu erkennen lernen, wirft der Kommentar klugerweise aber auch die Frage auf, ob inzwischen Künstliche Intelligenz nicht schneller lernt als noch so lernfähige Menschen – und entlässt das Publikum mit diesem Cliffhanger. Kurzum: Diese bemerkenswert dichte und kluge Online-Serie anzusehen, lohnt sich.