Furiose Tragikomödie um eine junge Stripperin und den Sohn russischer Oligarchen, die aus einer Laune heraus in Las Vegas heiraten.
Warum sie russisch sprechen könne, fragt der zugedröhnte, mit Dollarscheinen um sich werfende Oligarchensohn Ivan (Mark Eydelshteyn) die Sexarbeiterin Anora (Mikey Madison), die lieber Ani genannt werden will. Er ist ihr Kunde im Stripclub Headquarters, einem eher noblen Etablissement. Sie antwortet höflich, aber nicht besonders auskunftsfreudig.
Damit ist klar: Hier geht es nicht um ein Psychogramm, nicht um Betroffenheitsdramaturgie, sondern um den Augenblick. Ani führt Ivan in einen VIP-Raum, tanzt für ihn, zeigt ihm mehr, als sie eigentlich darf. Er dankt mit Scheinen, die er ihr unter den Stringtanga schiebt.
Es geht in “Anora” nicht um Themen, sondern um Figuren. Figuren, die es gut meinen, aber die vom Geld bestimmt werden. Figuren, die nicht wissen, was sie tun. Man kann die dynamische Lockerheit als Gegenpol zum schweren Themenfilmkino auffassen. Man kann dem Film aber auch eine allzu gefällige Verfrachtung sozialer Probleme in Genre-Konstrukte vorwerfen. “Anora” löst primär gute Laune aus.
Die Begegnung von Ani und Ivan setzt jedenfalls einen mal ekstatischen, mal tragischen Komödienrausch in Gang, der das beliebte Motiv der Sexarbeiterin, die sich einen reichen Mann angelt, zugleich bedient und auf den Kopf stellt. Denn nach einer knalligen, koksgeladenen Dauerfete heiraten Ani und Wanja, wie Ivan genannt wird, in Las Vegas. Eine spontane Entscheidung. Man spürt, dass das nicht gut ausgehen kann.
Im Gesicht von Schauspielerin Mikey Madison, die Ani zwischen Trotz und Naivität anlegt, entdeckt man einen Glauben an diese durchaus vorhandene Liebe. Im Gesicht von Wanja (Mark Eydelshteyn) spiegelt sich dagegen nur kindliche Unverfrorenheit. Ein Kartenhaus also. Eine lange Schwarzblende leitet den Wind ein, der es zum Einsturz bringen muss.
Regisseur Sean Baker weiß, was er macht. Er nimmt die Zuschauer mit auf eine irre Reise. Alles ist sehr sauber und schön, egal ob im Stripclub, Anis enger Wohnung oder im riesigen Haus, in dem Wanja zwischen Drogen und Spielekonsole dahinlebt. So setzt Schwerelosigkeit ein, obwohl es eine ganz schön kaputte Welt ist, die man hier sieht.
Die Heirat versetzt mehrere Handlanger der Familie in Aufruhr, denn die Ehe zwischen dem verwöhnten Sprössling und einer Sexarbeiterin wird von den flugs aus Moskau anreisenden Eltern nicht geduldet. Es folgen durchaus wilde Sequenzen: Das Chaos rund um eine zu annullierende Ehe zeigt sich in einer atemlosen Verfolgungsjagd, absurder Komik, romantischen Intermezzi und einer sich ausbreitenden Verzweiflung. Dabei kommen sich auch der Schläger Igor und Ani näher. Was beide eint, ist ihr unerschütterlicher Glaube an ein bisschen Wahrheit in dieser von Zynismus, Opportunismus und Geld beherrschten Welt.
Sean Baker hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder mit Sexarbeit beschäftigt. Für “Anora” gewann er 2024 die “Goldene Palme” in Cannes. Wie all seine Filme nutzt auch “Anora” längere Sequenzen, die geduldig und genau bis zum Ende auserzählt werden: etwa das Kennenlernen von Ani und Wanja, das Einbrechen der Wahrheit in diese Welt, die Begegnung mit den Eltern und die sich aufbauende Nähe zwischen Igor und Ani. Szenen, die hauptsächlich von den hervorragenden Darstellern getragen werden. Der Filmemacher verzichtet auf Vorgeschichten, er interessiert sich für die Gegenwärtigkeit der Konflikte, das Vorüberziehende einer widersprüchlichen Welt.
Baker will Geschichten erzählen, die sich nicht von sozialpolitischen Umständen hemmen, sondern inspirieren lassen. Das beinhaltet auch, dass manche Aspekte, etwa monetäre Abhängigkeit, nur kurz gestreift werden. Überhaupt scheint es allen sehr gut zu gehen. Obwohl viel von Geld die Rede ist, haben in diesem Film alle genug. Das ist die fragwürdige Kehrseite einer Vermeidung der üblichen Opferstereotypen. Ein schmaler Grat.
Über Sexarbeit erfährt man recht wenig; Baker hat vielmehr eine mal kluge, mal platte Parabel über die Abhängigkeit von (russischem) Geld gedreht. Denn alle Konflikte entstehen nur aus einer sich vor dem Geld duckenden Haltung. Das wird vor allem in den Szenen klar, in denen die ungeschickt agierenden Handlanger versuchen, Wanja und Ani im riesigen Haus der Familie festzuhalten. Dass Ani lange an die Liebe von Wanja glaubt, macht sie zu einer typischen Heldin. Dass sich ihre Verzweiflung gegen Ende des Films in ein kollektiveres Gefühl der Verlorenheit übersetzen lässt, verleiht dem Film ein bisschen mehr Gewicht, als er eigentlich trägt.