Hat eine Erfolgsautorin ihren Mann umgebracht? Die Frage bildet den Ausgangspunkt für das Justizdrama “Anatomie eines Falls”. Im Laufe der Verhandlung wird klar: Um eine objektive Wahrheit geht es dabei gar nicht.
Die Stimmung ist gelöst, als die erfolgreiche Schriftstellerin Sandra (Sandra Hüller) in ihrer abgelegenen Berghütte von einer Studentin interviewt wird. Weil aber Sandras Mann Samuel (Samuel Theis) das Gespräch aus dem Off mit ohrenbetäubender Musik sabotiert, wird es schließlich vertagt. Kurz darauf liegt Samuel tot vor dem Haus im Schnee.
“Anatomie eines Falls” widmet sich der Frage, ob es sich dabei um einen Unfall, einen Suizid oder gar einen heimtückischen Mord handelt. Die Beweislage lässt die französische Regisseurin Justine Triet bewusst schwammig und den Interpretationsspielraum groß. Der gemeinsame, seit einem Unfall erblindete Sohn Daniel (Milo Machado Graner) kann der Polizei als einziger Zeuge nur sehr bedingt weiterhelfen.
Sandra muss sich bald als Hauptverdächtige in einem spektakulären Mordprozess verantworten. “Anatomie eines Falls” spielt dabei zwar mit der krimitypischen Neugier auf eine Enthüllung und den Konventionen eines Gerichtsdramas, ist jedoch weniger an einer Klärung des Falls als der Wahrheitssuche an sich interessiert. Auch wenn es nach zweieinhalb Stunden zu einem Urteil kommt, enthält der Film bewusst jene Rückblende vor, die zeigen könnte, wie es wirklich war.
Stattdessen wird geduldig und analytisch von der Unmöglichkeit erzählt, eine allgemein gültige Wahrheit zu finden. Mehr als um Fakten geht es im Laufe des Prozesses darum, eine schlüssige Erzählung zu spinnen. Je mehr sich der Verdacht gegen Sandra zuspitzt, desto mehr entgleitet der Autorin ihre eigene Geschichte. Als zwei Polizisten das vermeintlich letzte Gespräch des Paars nachstellen, versucht sie erfolglos einzugreifen. Zu laut und aggressiv sei der Ton der beiden und käme bereits einer Vorverurteilung gleich. Dass die in Frankreich lebende Deutsche zudem wegen unzureichender Sprachkenntnisse immer wieder ins Englische verfällt, trägt zur weiteren Verfremdung bei.
“Anatomie eines Falls” zeigt, wie ein Ereignis durch selektive Wahrnehmung und unbewusste Deutung immer weiter verfälscht wird. Beiläufigkeiten wird im Prozess plötzlich monumentale Größe beigemessen: einem Glas Wein, das Sandras vermeintliche Labilität entlarven soll, oder einer Affäre, die sie vor längerer Zeit mit einer Frau hatte und Grund für die Ehekrise sein soll. Sogar in dem auf einem Sample des Rappers 50 Cent basierenden Musikstück, das Samuel in Endlosschleife hörte, will der verbissen streitlustige Staatsanwalt (Antoine Reinartz) eine bewusste frauenfeindliche Botschaft erkennen.
Der Ankläger mit seiner schamlosen Fantasie dient der Regisseurin effektiv als Gegenspieler. Jede Unklarheit des Falls nutzt der Staatsanwalt für eine bösartige Unterstellung. Sandras Leben wird in seinen wilden Spekulationen zur reißerischen Seifenoper voller Intrigen und unterdrückter Begierde. Am Ende möchte er die Autorin gar anhand einer Zeile aus ihrem Roman überführen.
“Anatomie eines Falls” ist ebenso ein Meta-Krimi wie ungeschöntes Beziehungsdrama. Im Laufe des Prozesses gerät die Aufmerksamkeit zunehmend auf die zerstörerische Dynamik zwischen Sandra und Samuel. Ein heimlich aufgenommenes Gespräch der beiden bildet das emotionale Herzstück des Films. In einer zunächst harmlos alltäglichen Situation brechen zunehmend unterschwellig brodelnde Gefühle wie Schuld und Neid auf gewalttätige Weise aus den beiden heraus.