Hildesheim. Der weiße Kühlschrank ist beinahe leer, nur ein paar Äpfel warten in einem blauen Plastikkorb. Kira Nadler öffnet die große Glastür, wirft einen prüfenden Blick ins Innere des Geräts, dessen LED-Lampen der Dunkelheit des Hildesheimer Abendhimmels trotzen. Dann schnappt sich Nadler einen Lappen und wischt alle Flächen einmal ab. „Heute morgen war der rappelvoll mit Hähnchen-Sandwiches und Heringssalat“, sagt sie. Denn der Kühlschrank, der unter einem Holzverschlag auf dem Innenhof der Martin-Luther-Kirchengemeinde steht, wird von hunderten Menschen gemeinsam genutzt – und einige von ihnen sind heute offenbar satt geworden.
Kira Nadler freut das. Die 28-Jährige nennt sich selbst Lebensmittelretterin, sie ermöglicht mit anderen Ehrenamtlichen den Betrieb des Gerätes in der Nordstadt, das sie Fairteiler nennen. 998 Menschen sind Teil der lokalen Telegram-Gruppe, 629 Personen holen Lebensmittel ab und 25 helfen mit, den Kühlschrank sauber zu halten. Bei ihnen allen brummt das Handy, sobald jemand schreibt: „Ich habe etwas in den Fairteiler gelegt.“ Wer dann den rund um die Uhr verfügbaren Kühlschrank öffnet, kann sich frei bedienen – eine Kontrolle gibt es nicht. Auch die Befüllung ist im Rahmen von hygienischen Grundregeln frei und reicht von Brot, Paprika, Erbsenmilch und Muffins bis hin zum Zehn-Liter-Eimer Mayonnaise.
“Genug Essen für alle”
1.117 Anlaufstellen wie die in Hildesheims Nordstadt betreibt der Verein Foodsharing bundesweit nach eigenen Angaben. Den Lebensmittelrettern geht es dabei nicht um das sozial ausgewogene Verteilen. Sie wollen vor allem, dass Lebensmittel nicht auf dem Müll landen. Aktuell gibt es Nadler zufolge allein in Hildesheim 19 vertragliche Vereinbarungen mit Supermärkten und anderen Betrieben, die unverkaufte und überzählige Lebensmittel zur Verfügung stellen. Grundregel bei der Auswahl sei dabei, Betriebe auszuschließen, die mit der lokalen Tafel kooperieren. „Wir wollen auf keinen Fall eine Konkurrenz sein“, sagt die 28-Jährige. „Es wird so viel Essen weggeschmissen, da bleibt genug für alle übrig.“
Uwe Lampe erlebt das Zusammenleben nicht ganz so unkompliziert. Es gebe eine schriftliche Vereinbarung auf Bundesebene mit dem Foodsharing-Trägerverein, bestätigt der Vorsitzende des Landesverbands der Tafeln in Niedersachsen und Bremen. Demnach würden die Tafeln zuerst beliefert, erst dann kämen die Lebensmittelretter. „Das klappt aber nicht immer“, sagt Lampe. „Unsere Helfer kommen dann, und die Foodsharer waren schon da. Das ist natürlich nervenaufreibend.“ Angesichts der stark steigenden Zahl von Bedürftigen und Aufnahmestopps in einigen Tafeln mahnt Lampe, dass die Belieferungs-Reihenfolge unbedingt respektiert werden müsse.
Grundsätzlich sei eine Koexistenz mit den Lebensmittelrettern, die meist kleine Mengen zu Fuß oder mit dem Fahrrad abholen, möglich, sagt Lampe, der die Tafel in Springe leitet: „In unsere Fahrzeuge passen bis zu 45 Euro-Paletten. Das ist allein von der Menge eine ganz andere Welt.“ Lampe grenzt auch die Mission der Tafeln deutlich von den Foodsharern ab: „Wir versorgen allein in Niedersachen 200.000 Menschen. Unser Anspruch ist es nicht nur, Lebensmittel zu retten, sondern vor allem Bedürftige zu versorgen.“
Sozialer Anspruch
Einen sozialen Anspruch verfolgt auch die Nordstädter Martin-Luther-Kirchengemeinde, die den kollektiven Kühlschrank beheimatet. Pastor Jochen Grön sagt, man kümmere sich ohnehin viel um das Gemeinwesen – schließlich gebe es im Stadtteil viele Menschen mit wenig Geld. „Hier hauen Kinder in den Kitas auch deshalb ordentlich rein, weil sie zu Hause eher nicht satt werden. Und die älteren Leute, die hierherkommen, haben kleine Renten.“
Ein Drittel der in Deutschland produzierten Lebensmittel wird nach Schätzungen weggeschmissen. Die Mitglieder der Hildesheimer „Foodsharing“-Ortsgruppe haben ausgerechnet, dass sie bereits mehr als 90 Tonnen vor der Entsorgung gerettet haben. Für Kira Nadler, deren Eltern ein Hotel mit Restaurantbetrieb führten, ist das Retten von Essen eine Lebensaufgabe: „Da wurde immer so viel weggeschmissen, das wollte ich selbst unbedingt anders machen.“ (epd)