Schneller, höher, weiter – das ist es, was in unserer Leistungsgesellschaft meist zählt. Menschen mit psychischen Leiden fallen da schnell durch, werden oft ausgegrenzt und stigmatisiert. Wer über wenig Resilienz verfügt, gar psychische Leiden hat, gilt als vulnerabel, also verwundbar. Einen Gegenentwurf zu dieser Auffassung zeigt am Donnerstag, 16. Mai, um 20.15 Uhr die 3sat-Dokumentation “Anders im Kopf – Neurodiversität als Stärke” aus der Reihe “WissenHoch2”.
Auf einer Deutschlandreise von Hannover, über Potsdam bis zum Bodensee verdeutlicht die Dokumentation des Münchner Filmemachers Viktor Stauder: Psychische Leiden können nützlich sein. Denn die Evolutionsgeschichte zeigt neurologische Vielfalt, die sogenannte Neurodiversität, als ein Erfolgsmodell.
Mentale Krankheiten “unter den Teppich gekehrt”
Gleich zu Beginn des Films steht Ray F. – der 25-Jährige hat kreatives Talent und eine bipolare Störung. Er sagt offen: “Ich habe tendenziell die Erfahrung, dass es unter den Teppich gekehrt wird, wenn jemand sich outet, mental krank zu sein”. Die Doku zeichnet den Weg des jungen Mannes nach, der vor zwei Jahren mit einer schweren Depression in eine Klinik eingeliefert wurde und ein Video-Tagebuch auf Social Media veröffentlicht hat. Weil Routine für Ray wichtig ist, bezeichnet er seinen Hund Ballou “als den besten Freund, den ich habe”. Momentan geht es Ray F. gut, und er plant, nach England zu Freundin und Töchterchen zu ziehen – aber die Gefahr eines Rückschlags besteht durchaus.

Zahlen sind bei diesem sensiblen Thema, über das Menschen meist nur mit engen Vertrauten reden, mit Vorsicht zu verwenden. Im Film heißt es lediglich: “Jeder dritte Mensch leidet im Laufe seines Lebens an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung.” Dem komplexen Thema nähert sich die Doku behutsam – erklärt psychische Handicaps wie Autismus, Schizophrenie und eine bipolare Störung in grafischer Form, zeigt so Symptome und Behandlung.
Weil aber psychische Leiden nützlich sein können, rückt nun nicht nur die vermeintlich “normale” Funktion des Gehirns, sondern die psychische Vielfalt in den Blick der Forschung. Der Filmemacher ist besonders beeindruckt von Isabel Dziobek, Expertin für Autismus an der Berliner Humboldt Universität.
“Anders im Kopf”: Autistische Menschen gefragt
Dziobeks Arbeit hat einen ungeahnte Wendung bekommen, als sie autistische Menschen gefragt hat, was diese selbst in der Forschung zum Thema interessiert. “Und das sind häufig ganz andere Fragestellungen, nicht die nach den Ursachen oder den Mechanismen von Autismus, sondern danach, wie die Lebensqualität von autistischen Menschen im Hier und Jetzt verbessert werden kann.” Anstatt nach Fehlern in biologischen Prozessen des Gehirns sucht nun ein neuer Forschungsansatz in der Psychiatrie nach dem evolutionären Sinn von psychischen Besonderheiten, die von Generation zu Generation vererbt werden.
Angetrieben von Neugier und dem Wunsch nach Erkenntnis ist Stauder mit “Anders im Kopf – Neurodiversität als Stärke” eine einfühlsame und interessante Dokumentation über ein berührendes Thema gelungen. “Menschen sind für mich das Spannendste – in all ihren Facetten”, sagt der erfahrende Filmemacher – und zeigt sie. In seinen bislang rund 100 Filmen habe er bestimmt 5.000 Menschen getroffen. Wenn sein Film dann noch ein Umdenken von der krank machenden Leistungsgesellschaft hin zu weniger Stigmatisierung und mehr Inklusion für Betroffene in die Arbeitswelt anstoßen kann, dann ist für Viktor Stauder das Ziel erreicht.
Vorlage und Hintergrund seines Beitrags ist die Reihe “WissenHoch2”, die ein Thema in zwei Formaten aufgreift: Um 20.15 Uhr beleuchtet die Dokumentation relevante wissenschaftliche Fragen rund um das Thema Neurodiversität; im Anschluss diskutiert Gert Scobel um 21 Uhr das Thema “Quoten, Wokeness, Inklusion – Was ist gerecht?” mit Gästen aus verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten.