Jedesmal anhalten geht nicht. Wer die Strecke mit dem Fahrrad fährt, kann nicht überall, wo ein Mensch starb, Halt machen. An jeden der 138 Toten erinnert eine Tafel mit Bild und Text. Die Lebensdaten, die Umstände von Flucht und Tod kann man hier im Einzelnen erfahren. Dazu gibt es viele weitere Informationen über die schrecklichen, oft auch kuriosen Folgen und Begleitumstände dieser denkwürdigen Grenze. Wer alle Infotafeln lesen wollte, bräuchte wohl wochenlang für die 160 Kilometer.
Ein Radweg erinnert an deutsche Geschichte
Eine halbe Großstadt war eingemauert, 28 Jahre lang. Die Erinnerung an diesen geschichtlich einmaligen Sachverhalt hält der Berliner Mauerweg wach, der ab 2001 angelegt wurde. Dem Verlauf der Grenze folgend, umrundet er das ehemalige West-Berlin. So verbinden sich Geschichtswerkstatt, Natur, Kultur und Fahrradtourismus.
Am Lohmühlenplatz trennte die Mauer Alt-Treptow (Ost) und Neukölln (West). Die doppelte Kopfsteinpflasterreihe, die im städtischen Bereich den Mauerverlauf markiert, ist ein deutlicher Wegweiser. Die Mauer folgte hier dem Straßenverlauf, bog rechtwinklig mal links, mal rechts ab, beschrieb dann parallel zur Bahnlinie eine längere Gerade. In der Nähe des S-Bahnhofs Plänterwald erinnert ein Denkmal an die 15 Maueropfer aus Treptow. Zwei Kinder waren unter ihnen: Jörg Hartmann, zehn, und Lothar Schleusener, dreizehn Jahre alt, erschossen am 14. März 1966.
Zwischen Joachimsthal (Ost) und Gropiusstadt (West) wird der Mauerweg zur Rennstrecke – breit, schnurgerade und gut asphaltiert, links die Autobahn, rechts der Teltowkanal. Es herrscht reger, schnell fließender Fahrradverkehr. Bald umrundet man das Dorf Rudow: Siedlungen im Grünen, stille Wohnstraßen. Und dann ist der Radler einsam auf einem schmalen Pfad durch Wald und Feld. Vögel zwitschern lauter als der ferne Verkehrslärm, nichts erinnert an die nahe Großstadt.
Den Grenzübergang „Am Vogelwäldchen“ passierten, streng kontrolliert, Müllautos auf dem Weg zur Deponie Groß-Ziethen in der DDR: In West-Berlin gab es kaum Flächen für die Abfallentsorgung, der ostdeutsche Staat nahm den Müll und ließ sich dafür in D-Mark bezahlen.
Im Berliner Forst Düppel nahe Kleinmachnow ist der Mauerweg eine Schotterpiste. Dann immer wieder am Wasser entlang und über das Wasser: Auch über den Wannsee verlief die Grenze. Die Fähre von Wannsee nach Kladow folgt zwar nicht genau dem Grenzverlauf, ist aber ein – sehr geruhsamer – Teil des Mauerweges; sie hat Platz für Dutzende Fahrräder.
Das Dorf Eiskeller bei Spandau war eine Enklave in der DDR. Als die Mauer gebaut wurde, lebten dort 20 Menschen auf drei Bauernhöfen. Das einzige schulpflichtige Kind, der zwölfjährige Erwin, musste auf seinem Schulweg täglich Kontrollen über sich ergehen lassen. Als er einmal nicht zur Schule kam, erklärte er anschließend, die Grenzposten hätten ihn nicht durchgelassen. Die britische Besatzungsarmee reagierte und begleitete den Jungen auf seinem Fahrrad fortan mit einem Panzerspähwagen zur Schule nach Spandau. Die Bilder davon gingen um die Welt. Erst viele Jahre später gestand er die Wahrheit: Er hatte die Schule geschwänzt.
Die meisten Geschichten von der Grenze sind weniger lustig. Es gab dramatische Szenen. Im November 1980 steht die achtzehnjährige Marienetta Jirkowsky in Hohen Neuendorf auf der obersten Sprosse ihrer Fluchtleiter, doch sie ist zu klein, um die Mauerkrone zu erreichen; ihr Verlobter liegt bäuchlings auf der Mauer und streckt seine Hand nach ihr aus, zieht sie hoch. Mit den Händen hat die junge Frau die Mauerkrone schon erreicht, als sie getroffen von der Leiter fällt. Der Mann lässt sich auf die Westseite der Mauer fallen. Wenige Stunden später ist Marienetta Jirkowsky tot: Bauchdurchschuss.
Der SED-Staat hatte großes Interesse, das Sterben an der Grenze zu vertuschen. Angehörige wurden erst Tage später informiert und zum Schweigen verpflichtet, viele wurden belogen, man erzählte ihnen etwas von Unfall oder Selbstmord. Die Todesschützen wurden belobigt, ausgezeichnet und befördert.
Vier Jahre bevor die Mauer fiel, fiel die Versöhnungskirche an der Bernauer Straße einer Machtdemonstration der SED zum Opfer. Das 1894 eingeweihte Gotteshaus stand seit dem Mauerbau im Todesstreifen. Es wurde gesprengt. Nach 1989 entstand auf Initiative von Pfarrer Manfred Fischer (1948-2013) an dieser Stelle die Kapelle der Versöhnung, ein ovaler Lehmbau mit Holzlamellenfassade.
Heute ein Roggenfeld auf dem früheren Todesstreifen
Diese Kapelle, heute Bestandteil der viel besuchten Gedenkstätte Bernauer Straße, ist ein Ort zum Innehalten, zum Durchatmen, zur Besinnung. Dazu passt auch das Korn, das an der Kapelle wächst und auf dem früheren Todesstreifen ein Lebenszeichen eigener Art setzt: Jahr für Jahr wird dort ein Roggenfeld bestellt. Aus der Ernte entstehen Brot und Oblaten für das Abendmahl.
Die Stadt. Reichstag, Brandenburger Tor, Potsdamer Platz. Touristen posieren vor bunt bemalten Mauerfragmenten. Pausenlos gelächelt und fotografiert wird auch an der East Side Gallery. Dieses längste erhaltene Stück der Hinterlandmauer haben Künstler aus aller Welt nach 1989 auf einer Länge von 1,3 Kilometern bemalt.
Über die Oberbaumbrücke mit ihren märchenhaften Türmen rollt der Verkehr über die Spree. Am 13. August 1961 wurde sie gesperrt, später wieder als innerstädtischer Grenzübergang für Fußgänger geöffnet.