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100 Stufen zum Quartier

Rund zehntausend Menschen kommen beim Kirchentag in Privatquartieren unter. Auch Anita Michel und Horst Brokfeld nutzen diese Möglichkeit. Sie schätzen den Kontakt zu Einheimischen. Ihre Gastgeberin findet die Begegnung bereichernd

Weit ist es nicht. Aber anstrengend. Vor allem weil Horst Brokfeld neben senem Koffer noch eine Bassposaune zu schleppen hat. „Aber das macht gar nichts, dafür sind wir zentral untergebracht“, freut er sich. „Da machen uns die 100 Stufen nichts aus.“
Er und seine Partnerin Anita Michel besuchen den Kirchentag in Stuttgart. Zum dritten Mal hat sich das Paar aus dem lippischen Oerlinghausen für ein Privatquartier entschieden – aus Überzeugung.
Rund 10 000 Kirchentagsbesucher sind an private Unterkünfte vermittelt worden. „Gräbele g‘sucht“ hieß das Motto, mit dem die Verantwortlichen des Deutschen Evangelischen Kirchentages die Stuttgarter aufgerufen hatten, Gäste aufzunehmen. Übrigens: Als „Gräbele“ (von „Graben“) bezeichnen die Schwaben den Platz zwischen zwei Matratzen im Doppelbett.
Auch Sibylle Chattopadhyay, bei der das Paar untergekommen ist, hat sich davon ansprechen lassen. „Aber erst spät“, erzählt sie. „Ich bin im Frühjahr umgezogen und wusste nicht, ob alles rechtzeitig fertig wird.“ Erst Ende April hat sie sich über das Internet gemeldet. „Das war recht unkompliziert. Ich musste ein paar Fragen beantworten und habe angegeben, dass man von der Haltestelle bis zu meiner Wohnung 100 Treppenstufen zurücklegen muss.“

Große Bereitschaft, jemanden aufzunehmen

Die Stuttgarterin weiß, dass sich auch viele aus ihrem Kirchenchor gemeldet haben, um Besucher aufzunehmen. Die Bereitschaft war groß – auch wenn es mit der Organisation manchmal nicht so recht geklappt hat. Ihre Mitsängerin Andrea Osti wollte eine gute Woche vor dem Kirchentag Kontakt mit ihren Gästen aufnehmen und hat nach deren Telefonnummer gefragt. „Aber da war wohl etwas schiefgelaufen“, sagt Andrea Osti. „Ihre Adresse war gar nicht gemeldet.“ Dennoch blieb zumindest ein Bett nicht leer: Eine Verwandte hat es dankbar angenommen. „Eine Bekannte hat elf Leute aufgenommen. Sie hat kurzerhand ihren Vermieter auf eine leer stehende Wohnung angesprochen, die er dann zur Verfügung gestellt hat.“
Anita Michel und Horst Brokfeld sitzen gerade beim Frühstück. Der Tisch ist reich gedeckt: Brot, Butter, Käse, Marmelade, Honig, Müsli, Joghurt und sogar frisches Obst stehen auf dem Tisch. Es riecht nach frischen Erdbeeren und Kaffee. „So ein reichhaltiges Frühstück ist toll“, meint Anita Michel. Selbstverständlich ist das nicht. Denn die Gastgeber sind nicht verpflichtet, ein Frühstück anzubieten. „Es ist eine schöne Gelegenheit, um miteinander ins Gespräch zu kommen.“ Das ist für das Paar ein wesentlicher Grund für ein Privatquartier. „Wir schätzen die Begegnung mit Menschen. Das gehört für uns zum Kirchentag. Wir haben gerne auch Kontakt zu Einheimischen“ sagt Horst Brokfeld.

Immer auch ein kleines Abenteuer

Heute kann er seine Bassposaune im Quartier lassen, der Posaunendienst der Lippischen Landeskirche hat keinen Auftritt. Am Abend vorher stand die „Mondschein-Serenade zum Mitmachen“ auf dem Programm – zum 200. Todestag von Matthias Claudius. Das Paar hofft heute Bundeskanzlerin Angela Merkel zu erleben. „Wenn nicht, auch nicht so schlimm“, meint Anita Michel. „Wir nehmen‘s, wie es kommt.“
Ihre Gastgeberin wird unruhig. Sie ist Ärztin und muss in die Praxis nach nebenan. „Wenn Sie dann bitte noch die Milch in den Kühlschrank stellen, bevor Sie gehen. Den Rest mache ich dann.“ Und schon ist Sibylle Chattopadhyay weg.
Auch Anita Michel und Horst Brokfeld kommen in Aufbruchstimmung. Sie räumen die Milch weg und packen ihren Rucksack. „Da es nicht weit zu den Veranstaltungen ist, können wir auch während des Tages mal in unser Quartier“, sagt Anita Michel. Den Schlüssel haben sie bekommen. „Das ist viel Vertrauen, das uns da entgegengebracht wird.“
Die Tür geht auf, der Gastgeberin ist noch etwas eingefallen: „Nehmen Sie unbedingt Wasser mit. Das ist wichtig bei der Hitze.“ Dankbar nimmt das Paar das Angebot an. Ein Privatquartier ist für Horst Brokfeld immer ein kleines Abenteuer. „Man weiß nie, wo man landet“, meint er. „Aber wir hatten immer Glück.“