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Zwischen Zuversicht und Elend

Die Jugendkantorei St. Marien Minden und die Hochschule für Kirchenmusik Herford proben für den Kirchentag: „Jeremia – in die Asche geschrieben“ ist ein Oratorium – eine Art Gesamtkunstwerk bestehend aus Theater, Musik und Videoprojektion.

Der Krug zerspringt in Scherben, als Jeremia ihn auf den Boden schleudert. Mit lauter Stimme ruft der Prophet vor den Bürgern Jerusalems die Mahnung Gottes heraus: „Wie man eines Töpfers Gefäß zerbricht, so will ich dieses Volk und diese Stadt zerbrechen!“ Raunen und verhaltenes Rufen ertönt aus der Menge, dann lässt der Tempelaufseher den Propheten packen und in den Block sperren.

Der Ablauf sitzt, Emotionen werden noch geprobt

„Das funktioniert schon ganz flüssig“, lobt Pfarrer Manuel Schilling die Jugendlichen, die gerade den Schluss des ersten Aktes von „Jeremia – in die Asche geschrieben“ einstudieren. Aber die Reaktion des „Volkes“ auf die Wutrede des Propheten könnte heftiger sein. „Ihr habt den Ablauf im Kopf, jetzt braucht euer Spiel noch mehr Emotionen“, ermuntert Schilling. Woche für Woche treffen sich 25 junge Leute in der St. Marienkirche in Minden und üben für die Aufführungen des neuen Oratoriums. Höhepunkt ist der Auftritt auf dem Evangelischen Kirchentag am 20. Juni.

Für Schilling, der den Text des Musiktheaterstücks geschrieben hat, passt der mehr als 2500 Jahre alte Jeremia-Stoff hervorragend zum Motto des Kirchentages „Was für ein Vertrauen“. Wie kaum eine andere Figur des Alten Testaments habe Jeremia versucht, Gott zu vertrauen und dessen Willen Geltung zu verschaffen, sagt der Pfarrer der St.-Marien-Gemeinde. „Und kaum einen anderen hat das Vertrauen so viel gekostet. Doch er hat es nicht aufgegeben.“ Mit Themen wie Minderheitenschutz, kultureller Identität und Zivilcourage sei „Jeremia“ auch sehr nahe an den Problemen von heute, betont Schilling.

Paschhur, der Tempelaufseher, sieht zu, wie die Soldaten Jeremia fesseln und in den Block zwingen. Die Leute aus dem Volk gehen einer nach dem anderen an dem Hilflosen vorbei – mit hämischen, obszönen Gesten, manche spucken ihn an, schlagen und treten ihn. Der Prophet sackt immer weiter zusammen, bleibt schließlich allein auf dem Boden liegen.

Der 16-jährige Lukas Lade spielt die Titelrolle. Fast die ganze Zeit ist er als Jeremia auf der Bühne, muss sich vier größere Textblöcke merken. „Gott sei Dank kann ich so was gut“, sagt der Schüler. Lukas freut sich, nach 2017 ein zweites Mal beim Kirchentag auftreten zu können. In Berlin waren die Jugendlichen der St. Marien-Gemeinde mit dem Reformationsspiel „Die Murmel“ vertreten. „Damals habe ich entdeckt, dass mir das Theaterspielen liegt“, erzählt der Gymnasiast, der sich auch eh-renamtlich in der Kinderkirche und in der Gemeindebrief-Redaktion engagiert. So zögerte er nicht lang, als der Pastor ihn als „Jeremia“ besetzen wollte.

Wie aber spielt ein junger Mann von heute einen alttestamentlichen Propheten? „Jeremia ist erst mal wütend“, sagt Lukas. Wütend auf die Israeliten, die ihm nicht folgen wollen. Wütend auf Gott, der ihm oft nicht hilft. Wut, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Trauer, Enttäuschung, zählt der 16-Jährige auf – manchmal müsse er in der Rolle mehr Gefühle zeigen, als ihm lieb sei: „Nur fröhlich bin ich nie in diesem Stück.“

Nein, ein Happy-End habe er für die spannende Geschichte zwischen Zuversicht und Elend, zwischen Gottesnähe und Gottesferne bewusst nicht schreiben wollen, räumt Pfarrer Schilling ein. Gleichwohl: Im Epilog singt der Chor von Gottes Vergebung und Solidarität. Das ändere aber nichts an der „nüchternen Realität“, dass Jeremia nach dem Brand Jerusalems den Gang in die Gefangenschaft antreten müsse.

Lukas hat neben der „Stimme Gottes“ die einzige reine Sprechrolle. Die anderen jungen Leute müssen abwechselnd singen und in verschiedenen Rollen spielen und sprechen. „Aber das kennen sie schon“, sagt Marien-Kantorin Anna Somogyi, die seit Januar mit den Mitgliedern der Jugendkantorei probt, die um einige Konfirmanden und junge iranische Flüchtlinge verstärkt ist.

Die im vergangenen Jahr aufgeführte Kinderoper „Brundibar“ sei für die Jugendkantorei das erste Musiktheaterprojekt gewesen und eine gute Vorstufe für „Jeremia“. Das findet auch die Pädagogin Viola Schneider vom Stadttheater Minden, die alle zwei Wochen die Proben begleitet. Die Jugendlichen ließen sich mutig auf das Stück ein und seien von der Kirchengemeinde auch gut vorbereitet. Schneider legt Wert darauf, dass die Mitspieler den Inhalt der Szenen wirklich verstehen und entsprechend agieren: „Was denke und fühle ich in meiner Rolle und wie handle ich dann?“

Kantorei, Solisten und Chor an Produktion beteiligt

Die Inszenierung sei „nah am Puls des zeitgenössischen Theaters“, findet Viola Schneider. Zu Spiel, Musik und Gesang kommen noch computergenerierte Videoprojektionen hinzu – es ist ein „Gesamtkunstwerk“, sagt Anna Somogyi. Für die Kantorin ist das szenische Oratorium ein „Experiment, das man nicht jeden Tag erlebt“: Die eigens für das Stück von den Kölner Komponisten Dennis Mayer und Martin Brenne geschriebene Musik sei sehr modern – Schilling beschreibt die Klänge als „zwischen eingängig und dissonant“. Im Kontrast dazu singen die Chöre Lieder aus der Tradition wie „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ oder „Jesu, meine Freude.“

Neben der Mindener Jugendkantorei sind auch zwölf Orchestermusiker, Solisten an Klavier und Orgel sowie der Chor der Hochschule für Kirchenmusik in Herford an der Produktion beteiligt. Der Herforder Musikprofessor Hildebrand Haake hat die musikalische Gesamtleitung bei „Jeremia“ inne.

Die Uraufführung ist am Sonntag, 16. Juni, 20 Uhr, in der St. Marienkirche Minden. Weitere Aufführungen: Beim Kirchentag am Donnerstag, 20. Juni, um 20 Uhr, in der Stiftskirche St. Clara in Dortmund-Hörde;  am Sonntag, 23. Juni, um 20 Uhr in der Marienkirche Stiftberg in Herford.