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Zwischen Israelkritik und Antisemitismus – Streit um Fakten und Narrative

Für die Menschen in Israel und Gazastreifen geht es seit dem 7. Oktober um Existenzielles. An Hochschulen in Europa und den USA vor allem um Deutungshoheiten. Ein Streifzug durch unwegsames Gelände.

Demonstranten protestieren gegen die israelische Besatzung im Gazastreifen
Demonstranten protestieren gegen die israelische Besatzung im GazastreifenImago / Pacific Press Agency

Seit Monaten gehen grausame Bilder aus Nahost um die Welt: Verbrannte Kibbuzim und Blutlachen in Kinderzimmern nach dem Hamas-Massaker in Israel. Trümmerwüsten und tote Kinder im Gazastreifen – in einem Krieg, den Israel als Reaktion auf den 7. Oktober gegen die Hamas führt. Während es für die Menschen vor Ort um Existenzielles geht, streitet man in Europa und den USA um Fakten und Narrative – auf Demonstrationen, an Hochschulen und selbst beim Eurovision Song Contest ESC.

Neu in der Debatte sind die in einem Atemzug beantragten Haftbefehle sowohl gegen Spitzen der Hamas als auch gegen führende israelische Regierungsvertreter seitens des Internationalen Strafgerichtshofs. Israel, die EU und die USA stufen die Hamas als Terrororganisation ein. In dieser Gemengelage sehen die einen puren Antisemitismus – andere einen Genozid am palästinensischen Volk. Einige Fragen und Antworten – auch wenn es auf manche Fragen keine eindeutigen Antworten gibt.

Was ist Antisemitismus?

Weitgehend Konsens ist, dass eine Äußerung, eine Bedrohung oder eine Attacke antisemitisch ist, wenn sie sich nur deswegen gegen eine Person richtet, weil sie jüdisch ist. Wenn Handlungen des Staates Israel als Begründung für Anschläge auf Synagogen herangezogen werden oder Jüdinnen und Juden kollektiv verantwortlich gemacht werden für das Verhalten Israels. Wenn der Holocaust geleugnet wird. Wenn von einer “jüdischen Weltverschwörung” die Rede ist.

 

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Wegen des Umgangs Israels mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten ziehen Kritiker einen Vergleich mit einem Apartheidstaat oder fordern einen Boykott. Ist das automatisch antisemitisch? Es gibt Definitionen, die sich in mehreren Punkten unterscheiden. Zu nennen sind etwa die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und die “Jerusalemer Erklärung”, die internationale Forscher als weniger eng gefasste Alternative erarbeitet haben.

Wann wird aus legitimer Kritik am Staat Israel Antisemitismus?

Es besteht weitgehend Einigkeit, dass sachliche Kritik möglich sein muss – wie anderen Regierungen gegenüber auch. Wenn jedoch das Existenzrecht Israels zur Debatte steht, ist für die allermeisten die Grenze zum Antisemitismus überschritten. Der Historiker Yehuda Bauer hat einmal gesagt: “Wenn man Israel nicht dafür kritisiert, was es ist, sondern dafür, was es tut, dann ist das kein Antisemitismus.”

Die “3D-Regel” von Nathan Scharanski: Antisemitisch ist demnach, wenn es um Doppelstandards, Delegitimierung oder Dämonisierung Israels geht. Wenn zum Beispiel Israel das Existenzrecht abgesprochen oder es als das Böse dargestellt oder in seinen Handlungen mit anderen Maßstäben gemessen wird als andere Staaten.

Wie verhält es sich mit beantragten Haftbefehlen gegen Netanjah?

Israel und viele westliche Staaten sind empört: Eine demokratisch gewählte Regierung werde auf eine Stufe mit Top-Terroristen gestellt. Netanjahu selbst bezeichnet den Chefankläger als einen “der großen Antisemiten der Moderne”. Amnesty International Deutschland dagegen meint: Wer mutmaßlich Verbrechen nach internationalem Recht zu verantworten habe, müsse vor Gericht.

Zehntausende regierungsfeindliche Demonstranten in Tel Aviv
Zehntausende regierungsfeindliche Demonstranten in Tel AvivImago / ZUMA Press Wire

Er ist mit den als propalästinensisch bezeichneten Versammlungen und Camps von Studierenden in den Fokus geraten. Mit dem Fluss ist der Jordan und mit dem Meer das Mittelmeer gemeint. Während die eine Seite einen Aufruf zur Zerstörung Israels anprangert – wenn der Spruch auf Plakaten mit einer Karte illustriert wird, auf der Israel, das besetzte Westjordanland und der Gazastreifen komplett in den palästinensischen Farben Rot, Schwarz und Grün erscheint -, sieht die andere Seite die Forderung nach Freiheit für die Palästinenser.

Was ist mit dem Spruch “From the River to the Sea”?

Mitte Mai schrieb das Bundesjustizministerium auf X, dass der Spruch ein Hamas-Slogan sei. Für die Hamas besteht in Deutschland ein Betätigungsverbot: “Je nach Umständen des Einzelfalles kann deshalb die Verwendung des Slogans eine Verwendung von Propaganda einer verbotenen Organisation sein. Das ist strafbar”, so das Ministerium. In der Tat beschäftigt diese Frage immer wieder Gerichte.

Netanjahu löste in der UN-Vollversammlung im September 2023 Empörung aus, als er eine Karte hochhielt, auf der das als Israel gekennzeichnete Gebiet auch das Westjordanland und den Gazastreifen umfasste. Vertreter der Zwei-Staaten-Lösung sehen das Westjordanland und den Gazastreifen als Gebiet für einen zukünftigen Staat Palästina.

Sowohl in Israel als auch in den palästinensisch verwalteten Gebieten werden durchaus Landkarten verwendet, die das ganze Land entweder nur Israel oder nur einem zukünftigen Palästina zuschreiben. Das gilt auch für Schulbücher in Israel beziehungsweise den palästinensisch verwalteten Gebieten – oder für Anhänger für Halsketten und Aufkleber. Dabei wird auf die “Grüne Linie”, die das israelische Kernland von den besetzten Gebieten trennt, verzichtet.

Im aktuellen Krieg haben laut dem Gesundheitsministerium von Gaza Zehntausende ihr Leben verloren. Hier unterscheidet das der Hamas unterstellte Ministerium nicht zwischen Hamas-Kämpfern und Zivilisten. Die Zahlen führten bei manchen zu dem Vorwurf, Israel begehe einen Völkermord. Umgekehrt empfinden Kritiker diesen Vorwurf als Versuch, Israel zu dämonisieren. Auch wird argumentiert, dass es keinen übergeordneten Plan zur Vernichtung der Palästinenser gebe – stattdessen führe Israel einen Krieg gegen die Hamas und nicht gegen das palästinensische Volk.

Ist Mitleid mit den Menschen im Gazastreifen in Ordnung?

Das Leid dürfte an kaum jemandem spurlos vorübergehen. Das wird auch von jüdischer Seite offen gesagt. So betonte der Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner, Pinchas Goldschmidt, bei der Ehrung mit dem Karlspreis: “Auch mich lassen die Bilder aus dem Gazastreifen nicht kalt, wie könnten sie?” Die Verantwortung für die Toten sieht er jedoch nicht bei Israel: “Die Hamas hat den Krieg begonnen. Und sie könnte ihn sofort beenden. Indem sie die Geiseln freilässt, die Waffen streckt und ihrem eigenen Volk ein echtes Leben ermöglicht.”

Das Gespräch zwischen den Lagern aufrechtzuerhalten, Debatten auf der Basis von Fakten und nicht von Propaganda zu führen, das Leid der jeweils anderen Seite anzuerkennen – also auch die rund 1.200 Toten und die etwa 250 Entführten vom 7. Oktober nicht zu vergessen. Juden und Araber müssten auf Dauer gute Nachbarn werden, sagte etwa der Journalist Ronen Steinke kürzlich in einer Talkshow.