Wenn die Schülerinnen und Schüler der Evangelischen Integrierten Gesamtschule in Wunstorf bei Hannover aus dem Fenster ihres Andachtsraums in den Schulgarten schauen, dann fällt ihr Blick inzwischen auf zwei Bäume. „Wir haben einen Apfelbaum und einen Birnbaum gepflanzt“, erzählt Schulleiterin Elke Helma Rothämel. Die beiden Bäume sollen Schüler und Lehrkräfte auf stille Weise an ein Ereignis erinnern, das vor einem Jahr die ganze Schule schockierte und in ganz Deutschland für Aufsehen sorgte: Im Januar 2023 ermordete ein damals 14-jähriger Achtklässler einen gleichaltrigen Mitschüler aus der Parallelklasse. Beide Jungen kannten sich von klein auf.
Der Täter wurde im Sommer vom Landgericht Hannover wegen Mordes zu zehn Jahren Jugendhaft verurteilt – das war die Höchststrafe. Die Staatsanwaltschaft hatte ihm vorgeworfen, den Mitschüler gefesselt und mit Steinen erschlagen zu haben. Der Leichnam des Getöteten war am 25. Januar 2023 nach langer Suche auf dem Brachgelände einer alten Gärtnerei gefunden worden. Die beiden Jungen hatten sich wie so oft in ihrer Freizeit verabredet. Die Ermittlungen zu einem möglichen Komplizen des Täters hat die Staatsanwaltschaft inzwischen eingestellt.
Normalität ist wichtig an der Wunstorfer Schule
Doch wie soll eine Schule mit alldem umgehen? Jedenfalls nicht so, dass das Ereignis ständig Thema ist, sagt Rothämel. „Es ist bei aller Trauer, die bleibt, auch wichtig, dass die Schüler ein Stück Normalität erfahren.“ Deshalb die Idee mit den Erinnerungsbäumen: „Sie sind Bestandteil eines gestalteten Andachtsgartens, der von den Schülern gepflegt wird. Sie geben unserer Erinnerungskultur einen liebevollen und sinnlichen Wert.“ Die beiden Bäume wiesen auch in die Zukunft, erläutert die Direktorin der Integrierten Gesamtschule: „Da sollen Früchte wachsen. Und diese Früchte sollen auch gegessen werden und dürfen schmecken.“
Dass die beiden Bäume gepflanzt wurden, geschah auf besonderen Wunsch der Eltern des Getöteten: „In all ihrer Trauer und all ihrem Schmerz über den Verlust ihres Sohnes sehen sie auch, dass die Eltern des Täters ebenfalls ihr Kind verloren haben“, sagt Rothämel. Mit den Eltern des Opfers ist sie nach wie vor in Kontakt. „Sie sind für uns weiterhin wichtig.“
Die Schule mit fast 1.000 Kindern und Jugendlichen hatte gleich nach der Tat umfangreiche Gesprächsmöglichkeiten mit Personen der Seelsorge sowie psychologische und pädagogische Begleitung angeboten, um das Geschehene verarbeiten zu können. Mittlerweile gab es weitere Angebote dazu. So haben die Schülerinnen und Schüler einen „Verhaltenskodex“ mit zwölf Leitsätzen erarbeitet, um einen verantwortlichen Umgang miteinander einzuüben. Der letzte Satz lautet: „Wir brauchen ein Wir-Gefühl“.
Lehrkräfte werden zum Thema Mobbing geschult
Die Lehrkräfte wurden von Experten zum Thema Mobbing geschult und sollen dieses Thema nun aufmerksam in die Klassen tragen – obwohl es laut Rothämel bei dem Mord vor einem Jahr gar nicht um Mobbing ging: „Das schließen wir nach unserer Kenntnislage aus.“ Dennoch sei es wichtig, sich im Sinne einer intakten Klassen- und Schulgemeinschaft mit Mobbing zu beschäftigen, betont die Direktorin: „Weil es keine Schule ohne Mobbing gibt.“
Nach zwei Lehrerarbeitstagen im vergangenen Jahr hängen zudem in jedem Klassenzimmer die Telefonnummern von Seelsorgern und Notfallhelfern aus, die zuvor nur vor den Beratungsräumen und auf der Homepage zu finden waren. Ein besonderer Ort bleibt der Lieblingsplatz des getöteten Schülers in der Bibliothek. Viele wussten, dass er besonders gern dorthin kam. Heute steht dort ein Schwarz-Weiß-Bild von ihm, dazu ein Gesteck aus Papierblumen. „Dort kann jeder hingehen und ihm in Gedanken nahe sein.“
Auch wenn das Leben an der Schule weitergehe – niemals werde ein solches Ereignis vergessen, sagt Rothämel: „Keine Schule ist nach so etwas, wie sie war. Keine Schule wird einen Haken daran machen. Abgeschlossen ist das nie.“