Artikel teilen

Zockende Senioren

Spielend gegen die Vergesslichkeit und für mehr Mobilität: Spielekonsolen sorgen in Alten- und Pflegeheimen für Spaß und sind gleichzeitig Therapie. Zu Besuch bei der Senioren-“Zockerrunde” von Bremen.

Bei Bewegungsspielen an der Konsole werden ältere Menschen fitter
Bei Bewegungsspielen an der Konsole werden ältere Menschen fitterepd-bild / Dieter Sell

Bremen. Claus Lehnert hat die Ruhe weg. Der 61-Jährige steht mit seinem Rollstuhl vor einer großen Videowand und hebt gelassen die linke Hand. So pariert er beim virtuellen Tischtennis den Angriff seiner Mitspielerin Margret Warnken. „Mist“, flucht seine Gegnerin, der ein Ball von Lehnert durchgeflutscht ist. Der lächelt sanft. Wieder ein Punkt gut gemacht. Die beiden gehören zu einer Gruppe von Senioren und Seniorinnen ohne technische Berührungsängste, die sich im Bremer Alten- und Pflegeheim der Johanniter regelmäßig vor der Spielekonsole trifft.

Was für die „Zockerrunde“, wie sie sich selbst nennt, längst zu den liebsten Freizeitbeschäftigungen gehört, ist vielen Seniorenhäusern in Deutschland noch fremd: die Beschäftigung mit digitalen Spielen. In diesem Fall handelt es sich um die „Memore-Box“ des Hamburger Start-up-Unternehmens „RetroBrain“. Sie erfasst mithilfe einer 3D-Kamera die Bewegungen von Lehnert und Warnken und überträgt sie ins digitale Spiel. So kann unter anderem virtuell gekegelt, Motorrad gefahren, Post verteilt oder eben Tischtennis gespielt werden.

Sekt zur Belohnung

Besonders emotional wird es beim „Pudel“ auf der digitalen Kegelbahn, wenn die Kugel komplett ihr Ziel verfehlt. „Uhhh“ schallt es beim Fehlwurf von Günter Schlesinger aus dem Hintergrund. „Versuchen Sie es mit mehr Schwung“, tönt es aus dem Lautsprecher der Memore-Box. Der 94-Jährige versucht es nochmal – und ist erfolgreich: „Alle Neune!“, die Zockerrunde johlt und klatscht Beifall, wenig später stoßen alle mit Sekt an.

Die Pandemie hat dem Kreis kräftig zugesetzt. „Doch jetzt geht es wieder los“, sagt Johanniter-Pflegedienstleiterin Sabine Stubbe. „Wer mitmacht, profitiert gleich mehrfach“, hat sie beobachtet. „Natürlich geht es zuerst um den Spaß am Spiel. Aber ganz unbemerkt werden dabei auch Muskeln, Gleichgewichtssinn, Gedächtnis, Konzentration und Koordination trainiert.“ Das bestätigt eine Studie des Berliner Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung. Danach können Videospiele gezielt sogar Hirnbereiche vergrößern, die für räumliche Orientierung, Gedächtnisbildung, strategisches Denken sowie Feinmotorik bedeutsam sind.

Spielen trotz hohen Alters, einsetzender Demenz oder körperlicher Beeinträchtigung: Dass das funktioniert, zeigt eine Testreihe in bundesweit rund 100 Einrichtungen, an der sich die Barmer Krankenkasse beteiligt hat. „Das regelmäßige Spielen verbesserte die kognitive und körperliche Leistungsfähigkeit, aber auch die Stimmung der Seniorinnen und Senioren“, bilanziert Barmer-Psychologin Andrea Jakob-Pannier.

Therapeutisches Potenzial

Die Untersuchung habe gezeigt, dass sich fast zwei Drittel der Nutzerinnen und Nutzer durch das Training körperlich und geistig gut gefördert fühlten. Pflege- und Betreuungskräfte hätten die positiven Effekte bestätigt, fasst Jakob-Pannier zusammen. Auch „Game“, der Verband der deutschen Games-Branche, sieht Senioren als Zielgruppe: Videospiele sorgten bei ihnen nicht nur für Abwechslung und Spaß, „sie besitzen auch therapeutisches Potenzial“, erklärt ein Sprecher.

Claus Lehnert und Margret Warnken spielen eine virtuelle Partie Tischtennis
Claus Lehnert und Margret Warnken spielen eine virtuelle Partie Tischtennisepd-bild / Dieter Sell

Lehnert, den ein Schlaganfall nach seinen eigenen Worten „total ausgebremst“ hat, bestätigt das. Seine Gedächtnisleistung habe sich verbessert, seitdem er an der Box spiele. Er sei beweglicher geworden und könne sich besser konzentrieren. „Und ich bin wieder in Kontakt mit anderen Menschen.“

„Der Zusammenhalt in der Gruppe, das ist die treibende Kraft, darin liegt für mich der größte Wert“, betont Lehnert und ergänzt: „Wenn man mal ein Tief hat, wird man von den anderen getragen und mitgerissen.“ Beim Spielen entstünden Freundschaften, die vorher nicht denkbar gewesen seien, bestätigt „RetroBrain“-Manager Jens Brandis. Er spricht von bundesweit mittlerweile mehr als 400 Häusern mit einer Memore-Box.

Auch Henning Scherf begeistert

Auch Bremens Altbürgermeister Henning Scherf (SPD) hat die Konsole ausprobiert. „Der Spaß hat mich angesteckt“, berichtet der 84-jährige Bestsellerautor („Grau ist bunt“). „Wenn ich das mit anderen zusammen mache, das ist doch eine tolle Sache. Da kommt man raus aus Einsamkeit und Isolation, das gibt Tagesstruktur.“ Und weil Spiele wie die Motorradfahrt die Reaktionsfähigkeit herausfordern und Denkaufgaben stellen, ist Scherf fest überzeugt: „Im hohen Alter lässt sich der Kopf noch mobilisieren.“ (epd)