Artikel teilen:

Wilde Ranken

Über den Predigttext zum Sonntag Jubilate: Johannes 15,1-8.

Predigttext
1 Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. 2 Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe. 3 Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. 4 Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. 6 Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. 7 Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. 8 Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.

Als ich 16 Jahre alt war, habe ich angefangen, viel in der Bibel zu lesen. Darin habe ich bunt markiert, was ich für lebenswichtig hielt oder einfach nur schön fand. Diese Verse wollte ich nie vergessen und beim Blättern nie übersehen. Einer war ein Vers aus dem Predigttext: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in­­­ ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.

Diesen Vers habe ich schon unzählige Male gelesen, bedacht, im Herze­­­n bewegt. Das Bild vom Weinstock liegt mir nahe. Ich bin in einer Gegend aufgewachsen, wo mich der Schulweg jeden Tag an kleinen Weinbergen vorbeigeführt hat. Wo Weinstöcke sind, ist meine geographische Heimat. Ich glaube, beim Bibellesen damals muss ich gemerkt haben: Der Weinstock ist auch meine geistliche Heimat. Und dass beides zusammengehört.

Einatmen, ausatmen. Mehr bräuchte es nicht.

Denn der Blick auf den Weinstock erinnert mich daran, wer ich bin und was ich brauche. Frische Luft, unter meinesgleichen zu sein und so viel Sonnenschein von vorne, dass die Schatten automatisch hinter mich fallen. In die Sonne blinzeln, einatmen, ausatmen. Leben und wachsen. Mehr bräuchte es nicht. Das wäre ein schönes Leben als Weinstock. Allerdings: Von den Weinstöcken, die in meiner Heimat und anderswo in den Weinbergen stehen, wird Jahr für Jahr erwartet, dass sie viel und gute Frucht bringen. Die Trauben sollen süß sein und ihr Wein den Gaumen verwöhnen. Er soll sich auch gut verkaufen. Auch wer als Weinstock in Gottes Weinberg steht, hat gut zu tun. Hat eine Aufgabe. Ich soll etwas bringen. Was ich hervorbringe, soll schmecken, gefallen, munden. Denn das sollen Früchte ja. Was ich hervorbringe, soll außerdem mehr als zwei Hände füllen, denn es soll ja viel Frucht sein. Puh. Manchmal weiß ich nicht, ob ich mir die Hände reiben soll oder die Sorgenfalten.

Viel Frucht bringen. Muss das sein? Kann ich das? Ich will es nicht. Nicht nur. Ich will nicht immer nur auf das sehen und hinarbeiten, was am Ende rauskommt. Schon gar nicht von Anfang an. Ich will nicht immer alles schaffen müssen. Und anstrengen müssen für Gott und Menschen will ich mich auch nicht immer. Wenn ich also eher sein könnte wie der wilde Wein, der sich durch meinen Gartenzaun rankt, das wäre schön. Wachsen, wie es gerade so passt. Sich überraschen lassen, ob und wann die Trauben reifen. Natürlich sein. Und dann und wann über den Glanz der eigenen Blätter staunen.

Wenn ich das Bild vom Weinstock zu lange betrachte, könnte ich mich glatt im Anspruch verlieren. Zum Glück sagt Jesus noch mehr und hält mich auf. Als würde er „Halt!“ sagen, ruhig und bestimmt. Wie wenn jemand die Hand auf deine Schulter legt, damit du spürst, dass da noch jemand ist: Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Er lenkt meinen Blick nach innen. Weg von dem, was ich meine, leisten zu müssen. Und wer ich meine, werden zu müssen. Hin zu dem, was ich schon bin. Verbunden mit Jesus. Wie Reben am Weinstock. Frucht bringen sie durch die natürliche Verbindung wie von selbst. Ich muss nur bleiben. Mehr nicht.

Geblieben ist auch der Vers in meiner Bibel, immer noch farbig. Inzwischen bin ich Mitte dreißig und würde ihn immer wieder markieren. Denn er erinnert mich daran, dass Jesus „Halt!“ sagt. Manchmal so: Halte dich zurück. Manchmal so: Halte inne. Und ganz oft so: Ich bin dein Halt. Im Leben und im Sterben. Im Glauben und Zweifeln, in Krankheit und Gesundheit, wenn du die ganze Welt umarmen möchtest und wenn sonst niemand da ist, den du umarmen kannst. Ich halte dich schon fest.