Predigttext
1 Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster der Juden. 2 Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. 3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? 5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6 Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. 8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist.
Eine Geburt ist etwas Faszinierendes: Ein neuer Mensch ist plötzlich da; atmet, schreit, nimmt seinen Platz in der Welt ein. Eine Geburt ist aber auch etwas sehr Anstrengendes, manchmal sogar Beängstigendes. Wir alle haben es erlebt, auch wenn wir uns nicht erinnern: Das Heraus aus der warmen, dunklen Höhle des Mutterleibs in die Welt draußen ist ein Schock. Die Kälte; der Krach; das grelle Licht! Die engen Wände der Gebärmutter sind verschwunden; plötzlich ist da Weite ohne Grenzen, ohne Halt.
Beängstigend ist das für das Kind, das da zur Welt kommt; eigentlich sogar unerträglich – aber notwendig. Denn ohne Geburt gibt es kein Wachstum und keine Möglichkeit, ein eigener Mensch zu werden.
Raus aus der Enge des Vertrauten
Diese Erfahrung der Geburt setzt sich im Leben fort. Immer wieder finden wir uns in Situationen wieder, die uns zu einer Entscheidung zwingen: in der vertrauten Enge verharren – oder den Schritt in eine unbekannte, vielleicht sogar beängstigende Weite wagen? Manche davon suchen wir uns selbst aus; andere werden uns aufgezwungen. Kinder zum Beispiel kommen irgendwann selbst auf die Idee, dass es spannend ist, sich von Mutter oder Vater zu entfernen. So krabbeln sie immer ein Stück weiter, hin- und hergerissen zwischen Angst und Freiheitsdrang – kommen aber, wenn alles gut geht, auch wieder zurück in die sicheren Arme der Eltern.
Andere Erfahrungen von Weite werden uns aufgezwungen und sind nicht so positiv: Wenn ein Elternteil unerwartet stirbt und ein Kind – egal welchen Alters – sich allein wiederfindet, irgendwie schutzlos der Welt ausgeliefert. Oder wenn eine Beziehung plötzlich beendet wird.
In solchen Situationen bricht das Vertraute, sicher Geglaubte weg. Diese Haltlosigkeit mag ähnlich beängstigend sein wie bei der Geburt.
Ähnlich beängstigend wie eine Geburt
Ich stelle mir vor, dass eine solche Erfahrung von Überwältigtsein in dem Ausdruck „von Neuem geboren werden“ steckt, den Jesus im Predigttext benutzt. Denn diese Neugeburt ist nach Jesu Worten das Werk des Heiligen Geistes – und der wird in der Bibel als mitreißende Kraft beschrieben, mit der Gott Menschen in Bewegung setzt.
Von neuem geboren werden heißt dann: Schritte herausgehen aus dem Gewohnten, Vertrauten, Sicheren in eine neue Weite.
Zum Beispiel bei eingeschliffenen Denkweisen: Was heißt eigentlich „normal“? Bin ich das – oder die anderen? Gibt es überhaupt eine Norm für das, wie mensch aussieht, spricht, sich kleidet, liebt, denkt? Oder wäre es nicht meine Aufgabe, Menschen sein zu lassen und sie genau so für wertvoll zu halten, wie Gott sie geschaffen hat?
Zum Beispiel bei Freundschaften: Warum sich immer nur mit Gleichgesinnten treffen, die bestätigen, was ich ohnehin denke? Warum nicht meine Komfortzone überschreiten und Begegnungen wagen, die mich herausfordern, in Frage stellen, neue Perspektiven öffnen?
Zum Beispiel bei meinem Verhalten: Wofür gebe ich Geld aus und warum? Womit verbringe ich meine Zeit, wo engagiere ich mich? Wie sehr lebe ich nach dem Gebot der Nächstenliebe – und wie oft vergesse ich es?
Solche Überlegungen können anstrengend sein; und noch viel anstrengender wird es, wenn wir wirklich etwas an uns und unserem Leben verändern wollen. Aber wer sich vom Geist bewegen lässt, kann das Gefühl von Neugeburt als bereichernd und befreiend erleben, wieder und wieder: aus erstarrten Gewohnheiten hin zu neuen Erfahrungen und Begegnungen. Und wer sich vom Geist bewegen lässt, bekommt Schwestern und Brüder an die Seite, die auf dem gleichen Weg unterwegs sind und einander dabei ermutigen, helfen, trösten, auffangen, wieder auf die Beine stellen, gemeinsam feiern, singen, beten, lachen und hoffen.