Was mittelalterlich klingt, kommt auch heute noch vor: Einweisungen in Psychiatrien als Mittel der Repression. Dabei nimmt die Seele oft erst Schaden. Auch Rechtsstaaten stehen vor Herausforderungen.
Eine Zwangseinweisung, erzwungene Verabreichung von Medikamenten oder Elektroschocks: Wer mit solchen Maßnahmen rechnen muss, “überlegt es sich zweimal, ob er oder sie Kritik übt oder Beschwerden einreicht”. Das sagt Mou Yanxi: Für den Verein Safeguard Defenders dokumentiert sie entsprechende Fälle in China. 144 waren es zwischen 2015 und 2021. “Die Spitze des Eisbergs”, sagte die Menschenrechtlerin der Zeitschrift “Psychologie Heute” im Frühjahr: “Die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher sein.”
Psychiatrie als Repressionsmittel: Das ist keine neue Strategie. In der Sowjetunion und in der DDR gab es ebenfalls politisch motivierte Einweisungen – um Menschen mundtot zu machen, aber auch, weil Stigmatisierung durch eine vermeintliche psychiatrische Erkrankung ihre Glaubwürdigkeit untergraben konnte. Während der NS-Zeit wurden Menschen mit psychischen Leiden systematisch ermordet.
Heute ist derartiges Vorgehen international geächtet. China nutze es dennoch als “Teil eines umfassenden Systems zur Stabilitätswahrung”, sagt Mou Xanxi. 80 Prozent der Betroffenen seien keine politischen Aktivisten, sondern etwa Petentinnen, “die auf legalem Weg ihr Recht suchen, nachdem ihre Häuser abgerissen, ihr Land enteignet oder sie Opfer von Polizeigewalt wurden”. Ihre Familien bräuchten oft Monate, um jemanden zu finden, der auf diese Art verschwunden sei.
Solches Vorgehen erzeuge “eine lähmende Angst unter den Menschen”, erklärt die Aktivistin, die in London lebt. Man meide heikle Themen oder passe das eigene Verhalten an. Hinzu komme, dass in den Einrichtungen vollständige Isolation herrsche – und oft erst Erkrankungen entstünden, “die ursprünglich nur erfunden waren”. Psychiatrische Untersuchungen nach medizinisch anerkannten Standards seien dort die Ausnahme.
Wie Gesellschaften mit Krankheit umgehen, hängt immer auch von deren Definition ab: Lange sei man auch hierzulande nicht in der Lage gewesen, sich etwa vorzustellen, dass Traumata durch äußere Umstände verursacht werden könnten, erklärt der Psychiater Peter Theiss-Abendroth in der “Psychologie Heute”. 1916 habe die deutsche Universitätspsychiatrie festgelegt, dass “gesunde Gehirne” auch “nach schweren psychischen Belastungen allenfalls kurze Schreckreaktionen” zeigten.
1958 wies der Psychiater Ulrich Venzlaff darauf hin, dass manche Belastungen eben doch so extrem seien, dass sie Menschen in ihren Grundfesten erschüttern könnten. In den 1970er Jahren wurde der Begriff des Traumas weiter gefasst – unter dem Druck von Vietnam-Veteranen in den USA. Hierzulande gilt das Zugunglück von Eschede im Jahr 1998 als Wendepunkt für den Umgang mit traumatischen Erfahrungen.
Zudem gebe es auch in Rechtsstaaten durchaus Probleme im Umgang mit psychisch unheilbar kranken Menschen: Darauf weist der Sozialpädagoge Herbert Knappe hin. So war etwa der Rechtsextremist, der 2020 in Hanau neun Menschen ermordete, an Schizophrenie erkrankt; der Copilot, der 2015 eine Germanwings-Maschine absichtlich zum Absturz brachte, litt an schweren Depressionen; der Attentäter vom Magdeburger Weihnachtsmarkt im vergangenen Jahr vermutlich an Wahnvorstellungen.
Fachleute warnen vor Stigmatisierung und betonen, dass es sich bei diesen Taten um extreme Einzelfälle handle. Die meisten Menschen – auch mit Suchterkrankungen oder Psychosen – würden nie straffällig; zudem seien etwa Depressionen und viele Formen von Sucht gut behandelbar.
Letzteres gilt laut Knappe eben nicht für schwere psychotische Erkrankungen. Viele forensische Kliniken seien jedoch überbelegt, zugleich beförderten Enge und fehlende Intimsphäre die Gewaltbereitschaft, mahnt er in der “Psychologie heute”. Zugleich brauche es geschlossene Einrichtungen, um die staatliche Schutz- und Fürsorgepflicht auch gegenüber Menschen wahrzunehmen, “die wahnhaft gewalttätig waren oder sich gewaltbereit zeigen”. Ändern müsse sich zudem der Umgang mit deren Umfeld: So brauche es geschultes Personal, das sowohl mit dem erkrankten Familienmitglied als auch mit den Angehörigen nach Lösungen suchen könne.