Bald zwei Monate nach dem Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad bleibt die Lage im Land unübersichtlich. Der Theologe und Nahostexperte Uwe Gräbe aus Stuttgart spricht mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) über die Ambitionen der neuen islamistischen Machthaber, die Situation der christlichen Minderheit und verweigerte Handschläge.
epd: Herr Gräbe, die Begeisterung über den Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad Anfang Dezember war geradezu überbordend. War das naiv?
Gräbe: Sicherlich kann man sich Sorgen machen, wenn berichtet wird, dass bärtige Milizionäre einschüchternd auftreten oder gar gleich wichtige Positionen im Staat besetzen oder dass Lehrpläne im islamistischen Sinne manipuliert werden. Insbesondere unsere christlichen Geschwister in Syrien nehmen es sehr genau wahr, wenn politische Entscheidungen plötzlich in der Moschee verkündet werden statt am Regierungssitz.
Aber sie nehmen ebenso wahr, dass manche problematischen Entwicklungen von übergeordneten Stellen auch wieder zurückgenommen werden und dass die neuen Herrscher allerorten auf die Kirchen zugehen, um Gespräche mit ihnen zu führen. Die Kirchenleitungen vor Ort haben durch die Bank ihre Bereitschaft erklärt, mit den neuen Herrschern zusammenzuarbeiten, um ein „neues Syrien“ zu bauen.
Natürlich haben der neue syrische Machthaber Ahmed al-Sharaa und seine Leute einen islamistischen Hintergrund. Aber sie haben seit ihrer Machtübernahme auch sehr viel richtig gemacht. So ist meines Erachtens momentan noch völlig offen, ob die Gesellschaft im „neuen Syrien“ letztlich islamistisch oder inklusiv geprägt sein wird. Letzteres ist umso wahrscheinlicher, je schneller die unglaubliche wirtschaftliche Not im Land überwunden wird. Dazu müssen die internationalen Sanktionen, die unter der Assad-Diktatur verhängt wurden, aber schnellstmöglich aufgehoben werden!
epd: In Gesprächen mit den neuen syrischen Machthabern fordert der Westen vor allem einen Schutz der Minderheiten, also etwa der Christen. Die Machthaber entgegnen, der Islam dulde Minderheiten…
Gräbe: Zum Glück habe ich diese Forderung in den vergangenen Wochen nicht mehr gehört. Im Dezember stand sie allerdings noch im „Acht-Punkte-Plan“ der Bundesregierung für Syrien. Ganz klar ein Missverständnis – und seitdem hat man offenbar dazugelernt: Das Osmanische Reich war es einst gewesen, das den anerkannten, nichtmuslimischen Gemeinschaften einen Platz als „geschützte Minderheiten“ zugewiesen hatte. Dabei ist eine solche Minderheit, arabisch „aqaliyeh“, niemals gleichberechtigt, sondern stets – auch gegen Bezahlung einer besonderen Steuer – auf den gnädigen Schutz der Mehrheit angewiesen.
Im 19. Jahrhundert kam es im Orient zum Wechsel der Schutzmacht, als Russland diese Funktion für alle orthodoxen Christen übernahm, und Frankreich für die Katholiken. Und im 20. Jahrhundert haben einige Diktatoren in der Region – darunter das Assad-Regime – dieses System perfektioniert, indem sie begonnen haben, die „Minderheiten“ in ihrem Herrschaftsbereich gegeneinander auszuspielen, um sich selbst anschließend als einzig mögliche Schutzherren dieser Gemeinschaften zu inszenieren. Das kann doch heute niemand ernsthaft wollen!
Die Christen in Nahost bezeichnen sich daher selbst auch nicht als „Minderheiten“, egal, wie klein ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ist. Vielmehr sprechen sie von sich als „Komponenten“ ihrer Gesellschaften, die gleichberechtigt an einem „zivilen Staat“ mitbauen wollen. Ein Dokument syrischer Christinnen und Christen vom Januar 2025 beginnt mit den Worten: „Wir erwarten nicht, dass uns das zukünftige Syrien als unterprivilegierte Minderheiten behandelt und uns gnädig Freiheiten einräumt.“
epd: In Deutschland war die Empörung groß, als Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) Anfang des Jahres Syrien besuchte und Ahmed al-Sharaa ihr den Handschlag verweigerte.
Gräbe: Diese Fixierung in unseren Debatten auf gewährte oder verweigerte Handschläge hat meines Erachtens schon etwas Obsessives. Es gibt weltweit so viele unterschiedliche Begrüßungsformen, vom Bussi-Bussi bis zum schönen „Hand-aufs-Herz“. Mit einigen Begrüßungsformen tue ich mich schwerer, mit anderen leichter. Ich weiß nicht, ob ich es hinbekommen würde, in Neuseeland meine Nase an der eines anderen zu reiben. In Südostasien bin ich zunächst einmal damit beschäftigt, herauszufinden, wer der sozial Höhergestellte ist, bevor ich weiß, auf welcher Höhe zwischen Brust und Stirn ich die Handflächen zum Gruß zusammenlegen muss.
Und das für mich persönlich herausforderndste Begrüßungszeremoniell unter arabischen Männern besteht darin, im nahöstlichen Hochsommer mehrfach von links und rechts einen verschwitzten Stoppelbart ins Gesicht gedrückt zu bekommen. Herausfordernd besonders dann, wenn gerade Ramadan ist und mein (fastender) „Grußpartner“ zwar für Allah aus dem Mund nach Moschus duften mag, wie der Hadith sagt, für mich aber nicht unbedingt. In solchen Situationen bin ich übrigens dankbar dafür, wenn das höfliche, respektvolle „Hand aufs Herz“ es auch tut. Es besteht überhaupt kein Grund, auf einer einzigen Begrüßungsform als „weltweitem Standard“ zu bestehen. (0128/21.01.2025)