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Wenn Menschen zu Fleisch werden – Autorin über ihren Tabubruch

Der Roman “Carnivora” wirft verdrängte Fragen auf: Warum erscheint es normal, Tiere zu essen? Wer entscheidet über den Wert von Lebensformen? Die Autorin erklärt im Interview, was sie mit ihrem Debüt bewegen möchte.

“Cibus” – in dem Roman “Carnivora” werden gezüchtete Menschen so genannt. Gezüchtet werden sie, damit die anderen, die “normalen” Menschen, weiterhin Fleisch essen können. Denn alle Tiere sind ausgestorben in diesem Roman, der “in der nahen Zukunft” spielt. In ihrer Heimat Dänemark hat das Debüt von Caroline Stadsbjerg eine Debatte ausgelöst, nun erscheint es auf Deutsch. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht die Schriftstellerin darüber, was makaber ist, wie Menschen verdrängen und warum tote Schweine in Metzgerläden hängen.

Frage: Beim ersten Mal, wo das Verspeisen eines Cibus erwähnt wird, stellt sich ein flaues Gefühl im Magen der Leserin ein. Ein gewünschter Effekt?

Antwort: Der entsteht wohl durch die Diskrepanz zu den Figuren im Buch: Was sie tun, ist für sie nicht seltsam; sie denken nicht darüber nach, dass sie einen Cibus essen. Die Leserinnen und Leser sind an eine völlig andere Norm und Ethik gewöhnt. Wenn es so beiläufig erwähnt wird, spüren sie, dass die Figuren daran gewöhnt sind. Das macht hoffentlich umso bewusster, was im Roman eigentlich geschieht – was wiederum die Frage aufwirft, was wir als Essen betrachten. Also: Ja, das ist die Absicht.

Frage: Um so erschreckender ist, wie Sie diese schleichende Normalisierung beschreiben. Hatten Sie reale Vorbilder?

Anwort: Absolut. Ich habe mit dem Buch während meines Psychologiestudiums begonnen. In den Semesterferien sah ich einen Dokumentarfilm über die Fleischindustrie: Wir behandeln Tiere, als stünden sie in der Hierarchie unterhalb von uns Menschen – beinah vergessen wir, dass es Lebewesen sind. Das hat mich sehr getroffen, denn ich bin in einer kleinen Stadt mit vielen Bauernhöfen aufgewachsen. Ich weiß also, wie Tiere geschlachtet werden – und habe durch den Film erst richtig erkannt, wie undurchsichtig und makaber dieser Prozess häufig ist.

Frage: Wie ging es weiter?

Antwort: Ich wollte das Groteske an unserem Umgang mit Tierfleisch zeigen. Ein Beispiel: In einem Metzgerladen hängt ein geschlachtetes Schwein im Fenster. Betrachten wir ein Nahrungsmittel – oder ein totes Tier, das unseren Appetit wecken soll? So kam mir die Idee, die Menschen, die als Cibus bezeichnet werden, jenem Prozess auszusetzen, den Tiere tatsächlich durchlaufen – möglichst nah an dem, wie es in der Realität abläuft.

Frage: Welche Rolle spielt es, dass ein Schnitzel uns nicht mehr an etwas Lebendiges erinnert?

Antwort: Eine entscheidende. Als Psychologin würde ich sagen: Es ist einfacher, ein Tier als Lebewesen zu betrachten und Fleisch als Nahrung, beides also komplett voneinander zu trennen. Wenn beides eins ist, stellen sich viele Fragen – doch darüber denkt niemand nach. Die Menschen sehen ihre Haustiere und Wildtiere in der Natur, den Prozess des Tötens sehen sie nicht. Viele wollen ihn auch nicht sehen. Sie wollen nicht einmal darüber sprechen, wo das Lebensmittel herkommt, das sie gerade verspeisen. Das ist eigentlich schon ein Signal dafür, dass etwas seltsam läuft.

Frage: Haben wir eine Verbindung zur Natur verloren, die früher selbstverständlicher war?

Antwort: Das denke ich schon. Wer sich aus dem Prozess des Tötens heraushält, baut die nötige Distanz auf, um die Empathie für das Tier abzuschalten. Dabei ist Empathie so kraftvoll – und wichtig für das menschliche Miteinander. Sie auszublenden, ist gefährlich. Wenn wir die echte Welt nicht sehen wollen, dann verlieren auch wir Menschen. Empathie ist wie ein Muskel, der trainiert werden muss.

Frage: Das Thema Essen werde häufig übersehen, heißt es einmal im Buch. Dabei diskutieren wir doch ständig über Ernährung, oder?

Antwort: Ich komme aus Westjütland, wo viel Landwirtschaft betrieben wird. Hier laufen einige Entwicklungen langsamer ab als in Großstädten. Diese Fragen sollten aber nicht davon abhängen, wo man lebt; schließlich gibt es wissenschaftliche Daten etwa zu Umweltschäden. Ich sehe noch ein größeres Problem: Wenn Menschen erklären, dass sie aus ethischen Gründen kein Fleisch essen, klingt das für diejenigen, die Fleisch essen, schnell wie ein Vorwurf – “du machst etwas Unmoralisches”. Daher fühle ich mich mittlerweile unwohl, wenn jemand nach meinen Essgewohnheiten fragt. Ich möchte niemanden verurteilen.

Frage: Menschen verwöhnen ihre Haustiere, während andere Tiere nach einem qualvollen, kurzen Leben auf dem Teller landen. Woher kommt dieser Widerspruch?

Antwort: Das hängt mit gewachsenen Überzeugungen zusammen. Lange Zeit war es in asiatischen Ländern legal, Hunde zu essen – das ist es inzwischen nicht mehr. Offenbar haben sie die Vorstellung übernommen, dass es auch unter Tieren eine Hierarchie gibt. Diese Vorstellung haben jedoch Menschen entwickelt – und damals mag es durchaus sinnvoll gewesen sein, Tiere als Nahrungsquelle zu nutzen. Das bedeutet aber nicht, dass wir es weiterhin so machen sollten.

Haustiere sind für uns süß und schützenswert. Bei Wildtieren ist das schon anders, nur wenige Menschen sprechen etwa von einer süßen Eidechse. Im Bezug auf sogenannte Nutztiere wird argumentiert, dass eine ganze Industrie daran hängt, die man nicht einfach auf den Kopf stellen kann. Allerdings hat die Corona-Zeit gezeigt, dass solche Maßnahmen durchaus möglich sind, wenn es darauf ankommt. Sogenannte Nutztiere geben uns etwas. Also sollten wir uns fragen, ob wir sie wie ein Produkt behandeln oder wie Lebewesen, die Fürsorge verdienen.

Frage: Manche Ethiker und Theologen setzen sich für Tierrechte ein. Wie sehen Sie das?

Antwort: In Dänemark gibt es ein Gesetz, das Sex mit Tieren verbietet. Sie zu töten, ist aber erlaubt. In manchen Hinsichten behandeln wir sie also wie Gegenstände, in anderen wie Lebewesen. Ich finde es wichtig, darüber zu diskutieren, wie weit ihre Rechte gehen sollten. Sie müssen sich von Menschenrechten unterscheiden, da auch die Bedürfnisse verschieden sind. Aber die bisherigen Gesetze gehen nicht weit genug. Auch hier erscheint mir Empathie als gute Richtschnur, obwohl sie oft belächelt wird. Das klingt wohl nach einem Hippie-Gedanken (lacht).

Frage: Apropos Hippie: Sie sind 1994 geboren. Sehen Sie die Sensibilität für Nachhaltigkeit und Artenschutz als Generationenthema?

Antwort: Ich hoffe, dass diese Sensibilität zurückkommt. In der Tat haben viele jüngere Menschen ein ausgeprägtes Bewusstsein für das Klima und die Zerstörung der Erde. Zwar fühlen sich viele von ihnen hoffnungslos, doch zugleich entstehen neue Optionen – beispielsweise viele vegetarische und vegane Angebote. Ich esse seit etwa zehn Jahren kein Fleisch mehr und finde es inzwischen viel einfacher als zu Beginn. Außerdem denke ich, dass niemand von uns perfekt sein kann – aber es wäre ein gutes Ziel, in 90 Prozent der Fälle gut zu handeln.

Frage: Autorinnen wie Sie, Lize Spit oder Gaea Schoeters rütteln die literarische Welt derzeit auf. Wie erleben Sie diese Entwicklung?

Antwort: Das ist interessant und cool! Zugleich gab es schon immer Autorinnen, die heikle Themen aufgegriffen und fragwürdige Mechanismen beleuchtet haben – etwa Margaret Atwood. Es ist wunderbar, wenn man zu einem Bewusstsein beitragen und manche Fragen überhaupt einmal stellen kann – in der Hoffnung, dass sie eine gewisse Wirkung entfalten werden.