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Wenn Freiheit zum Zwang wird

Verzicht gilt plötzlich wieder als schick. Zum Beispiel bei der Ernährung: Zurückhaltung wird da zum Aushängeschild für Selbstdisziplin und Erfolg. Mit christlicher Askese hat das nichts zu tun.

Fastenzeit: ein Anlass auch für viele nicht-religiösen Menschen, neuen Schwung in ihre Essverhalten zu bringen. Denn einfach nur essen, um den Hunger zu stillen und dabei vielleicht auch noch zu genießen – das ist vorbei. Kalorienzählen, „Entgiften“ und zwanghaftes Schielen auf gesunde Nahrungsmittel beherrschen die Nahrungsaufnahme unserer Tage (siehe auch Seite 10). Es schein so, als habe das Essen, eine der natürlichsten Tätigkeiten der Welt, seine Unschuld verloren. Gesunde und disziplinierte Ernährung ist zu einer neuen Religion geworden – oder, je nach Sichtweise, zu einem neuen Zwang.

Askese kann zwei Seiten haben

An all dem ist der Protestantismus schuld. So jedenfalls hat es kürzlich der Ernährungspsychologe Johann Christoph Klotter diagnostiziert. Denn der, meint Klotter, predige Askese als Tugend und Genuss als Sünde. Der Schlankheitswahn unserer Tage sei eine „säkulare Fortsetzung der protestantischen Idee“. Hat er recht?
Die Antwort hat, wie so häufig, zwei Seiten. Zunächst einmal ist der Protestantismus weit davon entfernt, der „Erfinder“ der Askese zu sein. Die Idee der Enthaltsamkeit für einen höheren Zweck gab es nämlich schon rund 2000 Jahre vor der Reformation. Sie entwickelte sich sowohl im hinduistischen Raum als auch in den antiken Kulturen rund um das Mittelmeer. Fasten und Verzicht auf Genuss sollten zum einen dazu dienen, sich von der als mangelhaft oder gar böse empfundenen Welt unabhängig zu machen, indem man sich körperlich und seelisch über sie erhob. Zum anderen wurde durch den Verzicht sozusagen Platz gemacht für höhere Güter wie Gottesbegegnungen oder Tugenden. Auch die Einübung von Disziplin mit Hilfe von rituellem Verzicht war ein Motiv für Askese. Der freiwillige Verzicht sollte frei machen von den Zwängen, die dem Menschen durch körperliche Bedürfnisse oder auch die Umwelt diktiert wurden.

All diese Formen kommen bereits im frühen Christentum vor, angefangen bei Paulus, der mit dem nahen Untergang der Welt rechnet und bis dahin auf weltliche Genüsse verzichten wollte. Einflüsse der griechischen und der gnostischen Philosophie forderten in den folgenden Jahrhunderten auch von Christinnen und Christen den Rückzug aus der „bösen“ Welt. Und das aufblühende Mönchsleben rief zum Verzicht um der geistlichen Güter willen auf. Jesus selbst wurde von Reformbewegungen immer wieder als Vorbild an Besitzlosigkeit und Keuschheit präsentiert und einer Kirche entgegengehalten, die allzu maßlos nach weltlichen Gütern strebte.

An der typisch protestantischen Variante der Askese hat dann vor allem der Genfer Reformator Calvin mitgewirkt. Er hat die Vorstellung von der Erwählung, der Prädestination, entwickelt: Für jeden Menschen stehe von jeher fest, ob Gott ihn zur Erlösung bestimmt hat oder nicht. Das Problem: Niemand weiß in diesem Leben mit Sicherheit, ob er dazugehört. Calvin selber äußerte sich nicht weiter dazu – er ging davon aus, dass Gläubige für sich selbst Heilsgewissheit haben. Seine Nachfolgerinnen und Nachfolger jedoch hatten ihre Schwierigkeiten mit dieser Gewissheit. Und so entwickelte sich die Überzeugung, dass sich die göttliche Erwählung am Erfolg im Leben ablesen lässt: Wer reich und erfolgreich ist, ist erwählt; bei den anderen ist das nicht sicher.
Erfolg aber ist eine Sache, die sich beeinflussen lässt. Zum Beispiel durch Disziplin, Anstrengung und Sparsamkeit – was wiederum zu noch größerem wirtschaftlichen Erfolg führt. Alles, was diesen Kreislauf hindern könnte – etwa Genuss um seiner selbst willen, ohne irgendeinen Ertrag –, wird dagegen verpönt.

Diese Haltung sah der Soziologe Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Ursache für den Siegeszug des Kapitalismus. Und von hier führt der Weg zu der behaupteten Schuld des Protestantismus an zwanghaftem Essverhalten – schließlich gilt der als erfolgreich und angesehen, der seinen Körper durch bewusstes und diszipliniertes Essverhalten gesund und leistungsfähig hält.

Eine moderne Sehnsucht nach Erlösung

Auch wenn dieser Vorwurf viel zu sehr vereinfacht: Etwas Wahres ist dran an dem Zusammenhang. Die Versuchung, durch eigenes Wohlverhalten der Erwählung einen Schubs zu geben, ist groß. Und auch wenn es dem aufgeklärten Menschen der Gegenwart nicht mehr um das moralisch-religiös „Gute“ geht, kommt die Sehnsucht nach Erlösung und Befreiung von weltlichen Zwängen durch die Hintertür von Gesundheitswahn und Selbstoptimierung wieder zum Vorschein.

Dabei zeigt sich die Kehrseite des Verzichts: Wenn es darum geht, durch Nicht-Haben wieder einen neuen Erfolg zu erringen, wird der Wunsch nach Freiheit in sein  Gegenteil verkehrt, und es entstehen neue Unfreiheiten. Wenn der bewusste Verzicht dagegen dazu führt, dass das Gefangensein im Drang zu immer mehr Konsum und Wachstum durchbrochen wird, dann bekommt jedes Leben wieder seinen von Gott geschenkten Wert, auch wenn es nach außen hin nicht schön und erfolgreich ist. In diesem Sinne hat Askese eine kritische Macht, die auch gesellschaftlich etwas verändern kann.