„Na toll, noch ein Projekt“, dachte Jan Grote, als er erfuhr, dass er ein neues System der Pflegedokumentation erproben sollte. Doch dann ließ er sich darauf ein. Denn auch der Altenpfleger aus Hannover war genervt davon, dass er jeden kleinsten Handgriff bei seinen Patientinnen und Patienten auf seitenlangen Listen festhalten musste. Heute preist Grote das neue Konzept, das bald flächendeckend kommen soll: „Ich spare Zeit und habe endlich eine Dokumentation, die mir auch etwas für die tägliche Arbeit bringt.“
Das war zuvor anders, sagt Grote, dessen ambulanter Pflegedienst das neue System als einer von bundesweit 60 Betrieben testete. Er und seine 15 Mitarbeitenden hätten das Gefühl gehabt, die Dokumentation hauptsächlich für den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) zu führen. Für die tägliche Arbeit habe sie nicht getaugt. „Wenn ich morgens um sechs Uhr zu einer Patientin fahren muss, die ich nicht kenne, kann ich mich nicht erst durch seitenlange Dokumente arbeiten, sondern muss wissen: Was ist zu tun und worauf muss ich achten?“
Verändert und gründlich entrümpelt
Deshalb habe sein Pflegedienst immer zusätzlich zur Pflicht-Dokumentation noch ein Extra-Blatt erstellt, das die eigentlich relevanten Informationen enthielt: etwa individuelle Bedürfnisse oder Vorlieben des Patienten oder spezielle Risiken. „Das kann etwa der Hinweis auf die Stufe auf dem Weg vom Badezimmer ins Wohnzimmer sein, über die der Patient leicht stolpern könnte“, sagt Grote. Das Extra-Blatt kann er sich nun sparen: „Die neuen Anamnesen haben eine ganz andere Qualität.“ Denn jetzt muss er nicht mehr seitenlang ankreuzen, sondern schreibt selbst auf, worauf es ankommt.
Zufrieden gewesen sei schon lange niemand mehr, sagt Cornelia Albrecht vom AWO-Landesverband Brandenburg, die an der Reform beteiligt war. „Die Bürokratie der Dokumentation war überbordend geworden.“ Bis zu 25 Prozent der Arbeitszeit müssten die Pfleger dafür verwenden. Kein Wunder, denn die Akte eines Patienten könne locker 50 bis 70 Seiten umfassen, erklärt Stephan von Kroge von der Landesgeschäftsstelle des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) in Hannover.
Nach mehrfach gescheiterten Versuchen in der Vergangenheit gelang es der Pflegeexpertin Elisabeth Beikirch im vergangenen Jahr, im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums mit den Verbänden der Einrichtungs- und Kostenträger, dem MDK sowie den Bundesländern erstmals einen Konsens zu erzielen. Die gesamte Pflegedokumentation sei daraufhin gründlich entrümpelt worden: „Ein echter Paradigmenwechsel.“
Nur noch Abweichungen sind festzuhalten
Der größte Fortschritt liege darin, dass einmalig für jeden der Patientinnen und Patienten ein grundsätzlicher Maßnahmenkomplex festgelegt werde, erklärt Beikirch. Dokumentiert werden müssten nur noch pflegerische Leistungen, die davon abwichen. Die Pflegekräfte müssten also nicht mehr ankreuzen, dass sie einem Pflegebedürftigen morgens wie jeden Tag das Gesicht gewaschen haben. Extra festhalten müssten sie nur, wenn sie dies ausnahmsweise nicht getan haben, etwa weil der Patient oder die Patientin an diesem Tag nicht gewaschen werden wollte.
In der Testphase habe sich das neue System durchwegbewährt, sagt von Kroge. Die Pflegenden hätten für die Dokumentation bis zu 40 Prozent weniger Zeit benötigt. Das Personal sei begeistert, weil anstelle von stupidem Ankreuzen endlich wieder Expertise gefragt sei.
Viele Pflegende befürchteten in der Vergangenheit auch haftrechtliche Probleme, wenn sie nicht alles haarklein aufgeschrieben. Beikirch klärte das neue System mit Juristen ab, um den Altenpflegern diese Sorge zu nehmen. Nun schulen Beikirch und ihr Team bundesweit 640 Multiplikatoren, die die Anforderungen der neuen Dokumentation weitergeben sollen. Altenpfleger Grote meint, dass sich der Umstellungsaufwand in jedem Fall lohnt: „Wer sich jetzt nicht dafür interessiert, der darf hinterher nicht meckern, dass er zu viel schreiben muss.“