Predigttext
1 Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; 2 zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn und einen Tag der Rache unsres Gottes, zu trösten alle Trauernden, 3 zu schaffen den Trauernden zu Zion, dass ihnen Schmuck statt Asche, Freudenöl statt Trauer, schöne Kleider statt eines betrübten Geistes gegeben werden, dass sie genannt werden „Bäume der Gerechtigkeit“, „Pflanzung des Herrn“, ihm zum Preise. 10 Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt. 11 Denn gleichwie Gewächs aus der Erde wächst und Same im Garten aufgeht, so lässt Gott der Herr Gerechtigkeit aufgehen und Ruhm vor allen Völkern.
Ungefähr so wie beim dritten Jesaja könnte es klingen, wenn ich eine ideale Welt zu erzählen hätte. Denn wenn ich diesen Text lese, habe ich ein Lied aus meiner Kindheit im Ohr: „Ich mach‘ mir die Welt – widdewidde wie sie mir gefällt …!“ Pippi Langstrumpf sitzt auf ihrem Pferd „Kleiner Onkel“ und reitet vergnügt umher. Nicht, dass sie in einer schon idealen Welt leben würde – aber was nicht passt, das macht sie passend. Immerhin ist sie stark genug, hat eine Menge Goldstücke in ihrem Koffer, und mutig ist sie auch.
Der Prophet lebt auch nicht in einer perfekten Welt, und die Probleme seiner Zeit lassen sich nicht allein mit etwas Geld und Muskelkraft lösen. Doch er malt sich aus, wie seine Welt idealerweise sein könnte, wie sie ihm gefallen würde. Er schwebt aber nicht abgehoben über den Tatsachen, sondern bleibt in seinem Traum ganz realistisch, denn die Schattenseiten des Lebens blendet er nicht einfach aus. Sie werden vielmehr in ein ganz neues Licht getaucht: In dieser gefallenden Welt gibt es Freiheit – aber nicht einfach so, sondern gerade für alle, die sie nicht haben. Es gibt Gerechtigkeit – aber nicht im blauen Himmel, sondern in der Asche der Ausgebrannten. Wir sehen schicke Kleidung – aber nicht auf dem Laufsteg, sondern für alle, die vom Leben entblößt sind.
Der Prophet träumt eine fast ideale Welt, in der mehr möglich ist, als die Wirklichkeit zum Vorschein bringt. „Es könnte auch anders sein!“, malt dieses himmlische Bild mir in göttlichen Farben vor Augen. Göttlich, weil gerade auf diese Weise die Farben des göttlichen Geistes gemischt werden: aus dem, was ist und aus dem, was sein könnte.
Leider ist diese Illustration nicht nur schön und hoffnungsvoll, sondern auf ihre Weise ganz besonders schmerzlich und ernüchternd. Denn in all ihrem Sinn für die Realität hält sie beides miteinander aus: die Möglichkeit der Freiheit und die Wirklichkeit derer, die gefangen sind. Echte Trauer und die Sehnsucht nach Trost. Die göttliche Illustration wird zum Spiegel der wirklichen Welt und konfrontiert mich mit dem, was alles möglich wäre, aber noch nicht wirklich ist.
Wer ist berufen, so zu rufen? Nun, das „Ich“ des Textes legt sich allen in den Mund, die von einer solchen Welt erzählen. Kein Wunder, dass die Kirche es auch aus dem Mund von Jesus hört (Lukas 4, 18-19), denn sie sieht gerade in ihm etwas von dieser möglichen Welt wirklich werden. Mit ihm soll es endlich beginnen sich zu erfüllen (Lukas 4, 21).
Aber was wäre, wenn ich den Text in den Mund nehme? Ehrlich gesagt bleibt er mir fast im Halse stecken. Sein „Ich“ aus meinem eigenen Mund ist mir nämlich mehr als eine Herausforderung – es ist die blanke Überforderung! Denn nicht zuletzt werde ich mit dem konfrontiert, was mir möglich sein könnte.
Doch diese gewaltigen Prophetenworte haben eine Schlagseite: Sie malen das Mögliche über das Wirkliche, illustrieren Hoffnung gegen alle Ernüchterung, zeichnen Zutrauen gegen alle Zumutung – genau das ist der Geist Gottes!
Eine nicht kleinzukriegende Idee gegen die Resignation, weil sich das Göttliche abzeichnet, wo immer etwas von den Möglichkeiten Gottes wirklich wird: Freudenbotschaft, Herzensheilung, Freiheitsliebe (1). Wir hören und rufen ein hoffnungsvolles Staunen über dieses Wirklichwerden Gottes: Gnadenjahre und Trosterfahrung (2), Wertschätzung und Freudentaumel, Festlichkeit und Gerechtigkeit (3).
Das ist Werbung für eine Welt, „widdewidde wie sie mir gefällt“. Ich bin eingeladen zum Mitmachen und langsam Wachsenlassen der „Pflanzungen Gottes“. Und bei aller Überforderung bleibt die Hoffnung: dass Gott wachsen lässt, was gesät wird.