Marcel Reich-Ranicki glaubte „an Shakespeare, an Mozart, an Beethoven, an Goethe“, aber nicht an Gott. Seine ganze Liebe galt der deutschen Literatur; für sie lebte und stritt er mit Leidenschaft. Aber der Literaturkritiker hat auch als Zeitzeuge des Holocaust immer wieder auf versteckten oder gar offenen Antise-mitismus hingewiesen.
Geboren wurde er vor 100 Jahren, am 2. Juni 1920, in Wloclawek, einer polnischen Kleinstadt an der Weichsel. Sein Vater David war polnischer Jude, seine Mutter Helene eine deutsche Jüdin. Sie führte ihn früh ans Lesen heran und sorgte später dafür, dass ihr Sohn in Berlin bei Verwandten untergebracht wurde, wo er die Schule besuchte.
Deportation – Warschauer Ghetto – Untergrund
„Kindheitserinnerungen sind meist langweilig in der Literatur. Deswegen sind auch in Autobiographien, die immer so früh anfangen, die ersten Kapitel meist die schwächsten“, sagte er im Sommer 1992. Das gilt nicht für seine Autobiographie (1999), wo er seine behütete Kindheit mit vielen Büchern beschreibt und dann seine Schulzeit in Berlin. Trotz Nationalsozialismus konnte er noch sein Abitur ablegen, aber ein Studium war nicht mehr möglich. Marcel Reich-Ranicki war Autodidakt, er hatte sich alles selbst beigebracht.
Der Teil seiner Autobiographie, der von Rezensenten am meisten gelobt wurde und den Lesern am stärksten unter die Haut ging, war die Darstellung seines Lebens von der Deportation nach Polen 1938, über die Jahre im Warschauer Ghetto bis hin zur Flucht und dem Überleben im Untergrund. Im Warschauer Ghetto hat er seine Frau Teofila, genannt Tosia, kennengelernt und geheiratet. Die Angst davor, jeden Moment umgebracht zu werden, war ihr ständiger Begleiter. Nur die Musik konnte ihnen Trost geben.
Besonders oft hörten sie Beethovens Quartett Opus 59 Nr. 3, in C-Dur. Die ersten Takte waren später auf Reich-Ranickis Wunsch im Vor- und Abspann des „Literarischen Quartetts“ zu hören. Jedes Mal, sagte er später, wenn er diese Takte hörte, dachte er an die Musiker im Ghetto, die alle vergast wurden.
Nach der Befreiung durch die Sowjetarmee wurde er vom polnischen Geheimdienst angeworben. In dieser Zeit änderte er seinen Namen zu Marceli Ranicki, weil Marceli Reich zu deutsch klang. Daraus wurde später nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik (1958) Marcel Reich-Ranicki. In dem Land, aus dem er 20 Jahre zuvor deportiert wurde, hat er aus seiner Leidenschaft, der Literatur, eine erstaunliche Karriere gemacht. 2010 sollen ihn nach einer Umfrage 98 Prozent der Bevölkerung gekannt haben, das ist ein Wert, den sonst nur Heino schafft.
„Die Zeit“ stellte ihn zum 1. Januar 1960 als Literaturkritiker ein, wo er jedes Buch, das er vorschlug, auch rezensieren konnte und frei nach seinen Interessen schreiben durfte. Er brauchte nicht einmal in die Redaktion zu kommen, was ihm allerdings zum Schluss auch nicht mehr gefiel, da er sich ausgegrenzt fühlte. Also wechselte er 1973 zur „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ als Leiter des Literaturteils, wo er bis zu seinem altersbedingten Ausscheiden 1988 seine Stellung als Literaturpapst zementierte.
Sein bleibendes Vermächtnis bei der FAZ ist die von ihm initiierte „Frankfurter Anthologie“. Seit Mitte Juni 1974 erscheint jeden Samstag in der Zeitung ein Gedicht aus allen Epochen deutscher Lyrik, das von einem bekannten Interpreten erklärt wird. Nach seinem Ausscheiden wurde der Kanon erweitert, mittlerweile werden auch Gedichte aus anderen Kulturräumen, aber in deutscher Sprache vorgestellt und interpretiert.
„Ich nörgele über die meisten Bücher, die gelesen werden. Ich kann nicht anders: Ich muss nörgeln“, sagte er einmal. Von seinen Rezensionen waren gerade die Verrisse besonders beliebt – so sehr, dass Reich-Ranicki sie in Buchform unter dem Titel „Lauter Verrisse“ mit großem Erfolg veröffentlichte.
Marcel Reich-Ranicki löste mit seinen Kritiken bei den betroffenen Autoren zum Teil heftige Animositäten aus, doch keiner ging so weit wie Martin Walser, der 2002 ein Buch mit dem Titel „Tod eines Kritikers“ veröffentlichte. Darin las man eine nur schlecht verhüllte Abrechnung mit Reich-Ranicki, in die antisemitische Vorurteile einflossen.
Seine Lobeshymnen – auch die gab es – erreichten nicht die gleiche Aufmerksamkeit, auch wenn sie die Autoren erfreuten. Reich-Ranicki hat einigen Literaten eine große Karriere ermöglicht, so beispielsweise Ulla Hahn, die ihm einige unveröffentlichte Gedichte aus ihrer Schublade schickte. Sie hat es Reich-Ranicki allerdings nicht verziehen, dass er ihre späteren, ansonsten hoch gelobten Romane nicht schätzte und dies in seinen Rezensionen sehr deutlich machte. Auch die Fehde Reich-Ranickis mit Günter Grass ist Legende.
„Was schlecht ist, ist schlecht, und es muss gesagt werden“
Nach seinem altersbedingten Ausscheiden bei der FAZ fiel er beruflich die Treppe hoch. Am 25. März 1988 wurde die erste Folge des „Literarischen Quartetts“ im ZDF ausgestrahlt. Auch wenn in dieser Sendung nur über Bücher geredet wurde, sie sich also vermeintlich nur an ein schmales Publikum richtete, machte dieses Format ihn noch bekannter, als er ohnehin schon war. „Dieses Literarische Quartett ist keine Veranstaltung im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit. Was schlecht ist, ist schlecht, und es muss gesagt werden“, stellte er 1991 in der Sendung fest.
Seine typischen Gesten wie der erhobene Zeigefinger oder sein rollendes R – keiner wurde damals häufiger parodiert. Spätestens seit dem „Literarischen Quartett“ gehörte er zu den bekanntesten Personen in der Bundesrepublik. Im August 1999 erschien seine Autobiographie „Mein Leben“; schon zwei Wochen später stand das Buch auf allen Bestsellerlisten im deutschsprachigen Raum auf Platz eins.