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Was Gesundheitssysteme voneinander lernen können

In Österreich sorgte in den vergangenen Tagen eine Serie mutmaßlich unterlassener Hilfeleistungen durch Krankenhäuser für Diskussionen. Wäre es in Deutschland anders gelaufen?

Eine Wanderin aus Bayern stirbt nach einem Bergunfall, weil der Schockraum des nahen Krankenhauses belegt ist. Eine 55-Jährige mit eingerissener Hauptschlagader wird von vier Kliniken abgewiesen, da kein Intensivbett frei ist – und stirbt ebenfalls. Ein Mann erleidet auf einem Krankenhausparkplatz einen Herzstillstand, doch die Ärzte dürfen laut Vorschrift das Krankenhaus nicht verlassen, um zu helfen.

In Österreich sorgte in den vergangenen Tagen eine Serie von mutmaßlich unterlassener Hilfeleistung durch Krankenhäuser für Diskussionen. Expertinnen und Experten dringen auf Reformen. Aber wäre es in Deutschland anders gelaufen? Worin liegen Unterschiede und Gemeinsamkeiten – und was könnten die beiden Nachbarn in puncto Gesundheit voneinander lernen?

“Das österreichische und das deutsche Gesundheitssystem beruhen auf dem gleichen Grundprinzip”, erklärt Frank Michael Amort, Professor für Gesundheitsmanagement an der Fachhochschule Joanneum in Graz. Beim durch Bismarck eingeführten Sozialversicherungssystem zahlen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam in die Krankenversicherung ein. Bei vielen Indikatoren liegen die beiden Staaten in ähnlichen Rängen. “Also wenn sich eines der beiden Länder verbessern möchte, dann wäre es empfehlenswert, sich nicht nur am Vergleich Österreich-Deutschland zu orientieren”, rät Amort.

In einem Punkt sollten die Gesetzgeber in Wien aber durchaus einen Blick zum großen Nachbarn werfen: Während es in Österreich staatliches Pflegegeld für Bedürftige gibt, hat Deutschland bereits 1995 eine Pflegeversicherung eingeführt. Das sei zwar keine Universallösung für die Finanzierung der Pflege, meint Gesundheitsökonom Amort. Jedoch werde dadurch deutlich, dass es eine “strukturelle Lösung” brauche – vor allem mit Blick auf die alternde Bevölkerung: In Österreich liegt der Anteil der Über-65-Jährigen bei 20, in Deutschland bereits bei 23 Prozent.

In Deutschland darf jeder seine Krankenkasse weitgehend selbst wählen, in Österreich ist die gesetzliche Pflichtversicherung an den Beruf gebunden. Bei Privatanbietern kann man in Österreich höchstens eine Zusatzversicherung abschließen. Ein Umstand, den Thomas Czypionka vom Wiener Institut für Höhere Studien (IHS) kritisiert: “In Deutschland herrscht mehr Wettbewerb, sowohl bei den Kassen als auch bei den Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen.” Dadurch könne Deutschlands Gesundheitssektor flexibler auf Herausforderungen reagieren, so der Leiter der IHS-Forschungsgruppe “Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik”.

Bund, Länder, Gemeinden und die Sozialpartner, also Ärzte-, Apotheker-, Arbeiter- und Wirtschaftskammer: Sie alle haben in Gesundheitsfragen in Österreich ein Wort mitzureden. Diese Komplexität, verbunden mit dem fehlenden Wettbewerb, wirft laut Czypionka die Frage auf: “Woher sollen die Innovationen und Änderungen im System kommen?” Abhilfe schaffe hier zumindest teilweise ein 2013 eingeführtes System zur Zielsteuerung – von dem sich Deutschland wiederum etwas abschauen könnte.

“Das heißt, dass sich die Zahler im Gesundheitswesen auf wesentliche Punkt einigen, die man in der nächsten Periode verändern möchte”, so Czypionka. Das werde in einem Vertrag festgelegt, der auf Ebene der Bundesländer in konkrete Projekte gegossen wird. Auch in Sachen Datenaustausch sei Österreich mit seiner Elektronischen Gesundheitsakte (ELGA) um einige Jahre weiter als Deutschland mit der Elektronischen Patientenakte (EPA).

In beiden Ländern gibt es die freie Arztwahl. Dabei wirken die Behandlungswege in Deutschland laut Czypionka organisierter. Sichtbar werde das etwa an der hohen Zahl von medizinischen Versorgungszentren, in denen Fachärzte verschiedener Disziplinen zusammenarbeiten. Der Gesundheitsökonom nennt die Idee eines Diabeteszentrums: “Ich vereinige alle Berufsgruppen, die ein Diabetiker für einen Check braucht. Er geht hin, und alle Untersuchungen werden an einem einzigen Vormittag erledigt, ohne dass er bei fünf Ärzten anrufen und einen Termin ausmachen müsste.”

Die Versorgung in deutschen Krankenhäusern und österreichischen Spitälern gilt als hochwertig. Ob die jüngsten Notfallpatienten in Österreich auch in Deutschland gestorben wären – auf die Frage will sich keiner der beiden Experten einlassen. Czypionka verweist auf die höhere Krankenhausdichte in Deutschland. Fakt ist aber, dass auch das Klinikum Passau die Herzpatientin abwies, weil dessen Spezialisten gerade einen anderen Patienten operierten. In Österreich wird seither über Maßnahmen diskutiert, mit denen man zusätzliche Kapazitäten für Notfälle schaffen könnte.