Der vormalige Bundesminister Jürgen Schmude gestaltete als Präses der Synode maßgeblich die Wiedervereinigung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit. Der heute 80-jährige Jurist und Sozialdemokrat erinnert im Gespräch mit Thomas Schiller an die protestantischen Befindlichkeiten in Ost und West, den Streit um Kirchensteuern und Militärseelsorge, die Stasi-Aufarbeitung in der Kirche und die Rolle des Kirchenjuristen und späteren SPD-Politikers Manfred Stolpe.
• Vor 25 Jahren trat in Coburg die erste gesamtdeutsche Synode nach dem Ende der DDR zusammen. Warum brauchte die kirchliche Wiedervereinigung länger als die staatliche?
Die kirchliche Wiedervereinigung hatte mit klaren Absichtserklärungen früher angefangen. Schon im Januar 1990 haben leitende Kirchenleute auf einer Konferenz in Loccum gesagt: Wir wollen die Wiedervereinigung in Staat und Kirche. Die Kirche stand aber nicht unter einem Druck wie der Staat, der eine Fluchtwelle fürchtete: „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh‘n wir zu ihr“, wurde damals auf den Straßen gerufen. Daher musste es beim Staat schneller gehen. Die Kirche konnte sich etwas mehr Zeit nehmen.
• Der Tübinger Kirchenrechtler Martin Heckel hatte sich damals mit einer Expertise zu Wort gemeldet, nach der die ostdeutschen Landeskirchen nie aus der EKD ausgetreten seien. Teilen Sie diese Auffassung?
Diese Frage habe ich damals bewusst umgangen. Mir ging es darum, den ostdeutschen Landeskirchen ein kollegiales Mitspracherecht zu eröffnen, statt sie einfach aufzunehmen. Ein kürzeres Verfahren hätte Verletzungen ausgelöst und Missverständnisse, die uns noch viel länger beschäftigt hätten, als es so schon nötig gewesen ist.
• Umstritten waren vor allem Fragen des Verhältnisses von Staat und Kirche.
Wir haben uns vor dem Hintergrund der ganz anderen Erfahrung der ostdeutschen Kirchen damit intensiv befasst. Letztlich haben wir aber aus praktischen Gründen die Zustände übernommen, wie wir sie in der westlichen Bundesrepublik seit langem auch in mühsamer Arbeit entwickelt hatten, etwa beim Religionsunterricht in Schulen oder bei der Kirchensteuer.
• Besonders langwierig war der Streit um die Militärseelsorge, deren Pfarrer in der Bundesrepublik beim Staat beschäftigt sind, was bei vielen ostdeutschen Protestanten auf Widerspruch stieß.
Beim Militärseelsorgevertrag hatten wir ernsthafte Konflikte und heftige Auseinandersetzungen. Es gelang dann, eine Übergangslösung zu finden, übrigens dank des Entgegenkommens des Bundeskanzlers Helmut Kohl, der die Gespräche mit dem Satz einleitete: „Ich will mit euch keinen Krach haben.“ Dann gab es einen Kompromiss. Als nach fünf Jahren die Übergangszeit zu Ende ging, war der Dampf völlig raus. Und die ehemaligen Streithähne hatten keinerlei Interesse mehr, noch irgendetwas infrage zu stellen.
• Wie hat die Wiedervereinigung die EKD verändert? Ist sie linker, ist sie frommer geworden, wie manche sagen?
Das sind sehr schöne Begriffe, die ich gern übernähme, wenn sie nicht die Sache so vereinfachen würden. Wie weit sich die EKD verändert hat, ist immer wieder unterschiedlich beurteilt worden. Den einen ging es zu weit, den anderen ging es nicht weit genug.
• Die westdeutschen Kirchen haben die Kirchen in der DDR massiv finanziell unterstützt. Welche Rolle spielte diese wirtschaftliche Abhängigkeit in den Gesprächen, die zur kirchlichen Einheit führten?
Wir hatten uns die ganze DDR-Zeit lang gehütet, die finanzielle Karte auszuspielen und die Rolle desjenigen zu übernehmen, der das Sagen hat, weil er bezahlt. Es wurde erst nach der Wiedervereinigung so richtig klar, dass in vielen östlichen Landeskirchen die Hälfte des Etats aus westlichen Mitteln bezahlt worden war. Das wussten die dortigen Bischöfe zum Teil selbst nicht. Für uns war klar: So etwas knallt man nicht auf den Tisch und macht daraus keine Argumente.
• Die Unterstützung ging nach der Wiedervereinigung ja weiter.
Die ostdeutschen Kirchen waren unverschuldet in eine andere Situation geraten. Sie hatten tapfer diese Situation durchgestanden. Das war die Voraussetzung dafür, dass sich die westdeutschen Kirchen verpflichteten, auch nach der Einheit weiterzuzahlen, denn es gab noch viel nachzuholen. So gab es einen innerkirchlichen Finanzausgleich, der klaglos weitergeführt wurde.
• Auch in der Zeit des Wiedervereinigungsprozesses saßen noch Stasi-belastete Funktionäre in hohen kirchlichen Ämtern. War das den westdeutschen Verhandelnden bewusst?
Das war uns in diesem Umfang nicht klar. Aber wir wussten lange vorher, dass es solche Fälle geben konnte. Dass es so massiv war, wusste ich zunächst nicht.
• Haben Sie persönliche Erfahrungen gemacht?
Ich wusste zum Beispiel, dass der sogenannte Kirchenanwalt Wolfgang Schnur sich sehr um westliche Gespräche bemühte. Das war ein Mann, von dem ich erwartet hatte zu hören, wie er seine Klienten verteidigt und mit welchen Möglichkeiten und Argumenten er ihre Interessen wahrnimmt. Stattdessen hatte ich jemanden vor mir, der mir erzählte, wie fromm er sei und wie er diese Frömmigkeit an seine im Gefängnis sitzenden Mandanten weitergibt. Selbst meine ostdeutschen Freunde sagten mir: Der ist uns zu fromm, der ist uns nicht geheuer.
• Wie bewerten Sie aus der Distanz von 25 Jahren die Aufarbeitung der Stasi-Belastung in der evangelischen Kirche?
Die Stasi-Verstrickungen waren in jedem Einzelfall anders. Viele Zuträger der Stasi haben der Kirche und einzelnen Menschen massiv geschadet. Es wurden aber zum Teil Verpflichtungsfälle gemeldet, die sich bei näherem Hinsehen als ein Phantasiegebilde der Stasi-Mitarbeiter herausstellten. Andere haben, ohne jemanden verraten zu haben, manches aus dem Innenleben der Kirche preisgegeben – unschädlich, nur Geplapper. Das alles galt es aufzuarbeiten in vernünftiger Weise. Und den Unterschieden Rechnung zu tragen. Nach meinem Eindruck ist das wirklich sorgfältig erfolgt.
• Die Frage, wie weit sich die Kirche mit dem DDR-System einlassen durfte, kristallisierte sich nach der Wende an der Person von Manfred Stolpe, dem Kirchenjuristen und späteren SPD-Ministerpräsidenten und Bundesminister. Wie beurteilen Sie seine Rolle?
Ich kannte Stolpe schon vor der Wiedervereinigung und hatte eine Reihe von Kontakten mit ihm. Die verliefen für mich zunächst enttäuschend, weil ich gar nicht an ihn rankam. Bei Konferenzen war er umlagert von kirchlichen Leitungspersonen aus der DDR, die mit ihren Zetteln ihre Anliegen an ihn herantrugen. Ein sehr erfahrener West-Spitzenmann unserer Kirche sagte mir: „Der hat Kontakte, die keiner kennt, die überaus wirksam sind, das will auch keiner wissen. Alle wollen, dass er etwas für einen tut.“ Das Vertrauen war da und die Erwartung: Wenn der sich drum kümmert, dann klappt das schon. Er wird seine Kontakte genutzt haben.
• Nach der Wende stand Stolpe genau deswegen in der Kritik von Medien und Bürgerrechtlern – zu Recht?
All diejenigen, die ungeheure Vorteile von ihm gehabt haben, hätten ihn ein bisschen stärker unterstützen dürfen, als er hinterher als sozialdemokratischer Ministerpräsident an die Wand genagelt werden sollte. Da wurde er zum Feindbild auserkoren. Es gab damals die Erwartung an die Evangelische Kirche in Deutschland, zu helfen ihn zu stürzen. Nach meinem Herzen war das nicht, und ich habe getan, was ich konnte, um das zu verhindern.