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„Warum konnten sie uns nicht als Menschen sehen?“

Familien aus Tansania suchen bis heute die zu Kolonialzeiten verschleppten Gebeine ihrer Vorfahren – auch in Deutschland. Die Ökumene-Beauftragten Mecklenburgs und die Nordkirche wollen helfen.

Felix Kaaya, einer der Protagonisten aus der Doku, und Filmemacherin Cece Mlay stellten die Doku "Das leere Grab" in Rostock vor
Felix Kaaya, einer der Protagonisten aus der Doku, und Filmemacherin Cece Mlay stellten die Doku "Das leere Grab" in Rostock vorSybille Marx

In einem Dorf im Süden Tansanias. „Ndua Songea Mbano“ steht auf einem Grabstein,  das Grab ist umringt von Kindern, jungen Erwachsenen und Alten. „Hier liegst Du, unser Vater Mbano“, sagt einer von ihnen, deutsche Untertitel leuchten auf. „Hier schläfst Du, aber Dein Kopf ist dort, in Europa. Die Weißen haben ihn genommen.“ Tränen fließen. „Vergib uns, wenn wir Dir Unrecht getan haben.“

Mit dieser Szene beginnt der Dokumentarfilm „Das leere Grab“, den die Tansanierin Cece Mlay zusammen mit Agnes Lisa Wegner aus Deutschland gedreht, bei der Berlinale 2024 vorgestellt und vor ein paar Wochen auf Einladung der Ökumenische Arbeitsstelle Mecklenburg, des Ökumenewerks der Nordkirche und anderer in Rostock gezeigt hat. Anhand von zwei Familien in Tansania zeichnet sie die blutigen Schatten der Kolonialzeit in Tansania nach, die bis in die Gegenwart, bis nach Deutschland und auch in den Raum der Kirche hineinragen.

Ein Leipziger Missionar war am Handel mit Gebeinen beteiligt

Sterbliche Überreste ermordeter Tansanier liegen noch heute als Anschauungsobjekte in vielen deutschen Museen und wissenschaftlichen Sammlungen (siehe Infoabspann). Und erst diesen Sommer ist bekannt geworden: Hans Fuchs, ein Missionar des Leipziger Missionswerks, war persönlich am Handel mit Gebeinen aus der heutigen Mwanga- und der Pare-Diözese in Tansania beteiligt – den Diözesen, mit denen der Mecklenburgische Kirchenkreis Partnerschaften pflegt. „Deutsch-Ostafrika“ hieß Tansania damals. Aus einem Briefwechsel, den das Leipziger Missionswerk online gestellt hat, wird deutlich: Fuchs wusste, dass die Tansanier die Gebeine ihrer Verstorbenen in Ehren und für heilig halten – und verkaufte dennoch dem Königlichen Völkerkundemuseum Berlin 15 Schädel und ein Sklett aus der Pare-Region im Nordosten des Landes. Der Direktor der Afrika- und Ozeanien-Abteilungen Felix von Luschan hatte ihm geschrieben, er wolle Skelette und Schädel, „die sonst verloren gehen würden“ „für die Wissenschaft retten“.

Für die Tansanier sind die leeren Gräber ein großes Leid

Änne Lange von der Ökumenischen Arbeitsstelle Mecklenburg sagt „wir sind bestürzt“ – darüber, dass auch ein Seelsorger die Trauerkultur der Einheimischen missachtet hat. Für die Tansanier, das zeigt die Doku, sind die leeren Gräber bis heute ein großes Leid. „Die Beerdigung dauert jetzt schon 115 Jahre an“ sagt im Film etwa John Mbano über seinen Urgroßvater Ndua Songea Mbano, der von der deutschen Kolonialarmee hingerichtet wurde. Den Schädel des Verstorbenen müsse er endlich finden, um das Trauma und die Trauer nicht auch noch an seine Kinder weiterzugeben. Seine Frau Cesilia Mbano, eine Lehrerin, quält sich mit der Frage, wie die weißen Kolonialherren so brutal sein konnten. „Warum war es ihnen nicht möglich, uns als Menschen zu sehen?“, fragt sie weinend. „Sie haben uns wie Säcke verscharrt. Es tut so weh, darüber nachzudenken…“

“Kolonialismus und Mission waren verflochten”

Cece Mlay hat ihre Doku im Sommer dieses Jahres in mehreren deutschen Städten gezeigt. Nach der Filmvorführung in Rostock führen Änne Lange, Pastorin und Afrika-Referentin Katharina Davis vom Ökumene-Werk der Nordkirche und eine junge Frau von der Initiative „Rostock Postkolonial“ durchs Nachgespräch, Cece Mlay und einer der Protagonisten aus der Doku beantworten Fragen. Tilman Jeremias, Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern der Nordkirche, ist ebenfalls gekommen, dazu knapp 30 Zuschauer.

Den Vertreterinnen und Vertretern der Kirche ist es wichtig, dem Anliegen der Tansanier Gehör zu verschaffen und zu prüfen, wo die Nordkirche vielleicht helfen könnte; etwa, indem sie ihre Kontakte zu den Partnerkirchen in Pare und Mwanga nutzt. „Wir erleben bisher, dass unsere Partner sagen, Kolonialismus und Mission hätten nichts miteinander zu tun“, erzählt Katharina Davis am Rande der Veranstaltung. „Die Missionare hätten ihnen den christlichen Glauben gebracht, der für ihr Leben fundamentale Bedeutung hat und als großer Segen wahrgenommen wird.“ Sie würden als Gründerväter der tansanischen Kirche in Ehren gehalten. „Doch der Fall Hans Fuchs zeigt sehr deutlich, wie Kolonialismus und Mission miteinander verflochten waren.“ Das Beispiel werde vielleicht helfen, die Gespräche neu und nochmal anders in Gang zu bringen; damit noch mehr Menschen auch in Tansania sich für die Aufarbeitung Aufarbeitung der Kolonialverbrechen einsetzen.

“Man kann es nicht schaffen, alle Gebeine zu identifizieren”

Für Bischof Jeremias ist nach dem Film klar: Deutschland steht noch ganz am Anfang der Aufarbeitung, auch wenn der frühere Bundespräsident Frank Walther Steinmeier in Tansania inzwischen öffentlich für die Verbrechen um Verzeihung gebeten hat. Eigentlich müssten aus den Museen auch alle Gebeine zurückgegeben werden, ebenso die vielen Kunstschätze, die in deutschen Vitrinen liegen statt in afrikanischen, findet Jeremias. Änne Lange sagt: „Was mich ratlos macht, ist die Tatsache, dass man es ja nicht schaffen kann, die zehntausenden Gebeine alle zu identifizieren.“ Die Namen der Verstorbenen, wird in der Doku sichtbar, sind von den Händlern damals gar nicht aufgeschrieben worden.

Die Regisseurin Cece Mlay stimmt zu: Wahrscheinlich werde die namentliche Identifikation nur in Ausnahmefällen gelingen. Vielleicht wird auch der Schädel von Ndua Songea Mbano nie direkt gefunden. Aber zumindest wäre es möglich, die tausenden Gebeine und Schädel, die entwendet wurden, irgendwann gesammelt nach Hause zu bringen: zurück auf den afrikanischen Kontinent, zurück nach Tansania. Sie ist dankbar für alle, die ihren Film sehen und davon erzählen. Und so den Boden für die Aufarbeitung mit bereiten.

Blick in die Geschichte Tansanias

Tansania stand von 1885 bis 1918 als Kolonie unter deutscher Herrschaft, gehörte zum Gebiet “Deutsch-Ostafrika”. Von 1905 bis 1907 führten die deutschen Truppen mit Hilfe von Söldnern dort einen Krieg gegen die Bevölkerung, der Hunderttausenden den Tod brachte. Unzählige menschliche Überreste von Tansaniern wurden als Trophäen oder Anschauungsobjekte nach Deutschland verkauft. Eine Umfrage der Kulturstiftung der Länder von 2022/23 zeigt: Heute liegen mindestens 17 000 menschliche Überreste aus Tansania und anderen ehemals deutschen Kolonien in Museen und Sammlungen Deutschlands. Die kritische Auseinandersetzung damit hat erst vor wenigen Jahren begonnen.