Herr Erdmann, wie gut fühlen sich gehörlose Menschen Ihrer Erfahrung nach in Kirchengemeinden aufgehoben? Mit welchen Problemen und Herausforderungen kommen sie auf Sie zu?
Andreas Erdmann: Innerhalb der Gehörlosengemeinde sind die Fragen an mich als Gemeindepfarrer nicht anders als in hörenden Gemeinden. Da geht es um Gemeindekreise, Gesprächswünsche oder Organisatorisches. Wie sich Gehörlose in anderen Gemeinden aufgehoben fühlen, gebe ich gerne an einen Gehörlosen selbst weiter. Gero Scholtz ist Mitglied in unserem Gemeindevorstand.
Gero Scholtz: Wir Gehörlose gehen normalerweise nicht in Gemeinden Hörender. Es ist langweilig, wenn nur gesprochen wird und wir nichts verstehen. Wir können ein bisschen in der Bibel mitlesen und das war es. Die restlichen Informationen gehen an uns vorbei. Hier in der Gehörlosengemeinde kommen die Gehörlosen, weil der Pfarrer gebärdet. Das sehen sie und fühlen sich wohl. Sie können es nicht nur verstehen, sondern sich auch austauschen, weil sie selbst verstanden werden. Selbst wenn Hörende ein bisschen „Hallo“ und „Danke“ gebärden können, reicht das ja nicht. So kann eine Diskussion über ein Thema nicht in die Tiefe gehen.
Welche strukturellen Hürden erleben gehörlose Menschen am häufigsten im kirchlichen Alltag?
Gero Scholtz: Auch hier ist es die Sprache. Wenn ich als Kind oder Jugendlicher mit Sorgen in meine hörende Gemeinde gegangen bin, dann wurde ich nett angelächelt und mir wurde über den Kopf gestreichelt. Aber dass ich wirklich mein Herz öffnen und ausschütten konnte und das Gefühl hatte, auch verstanden zu werden, das gab es nicht.
Andreas Erdmann: Dafür müssten alle Gemeinden wissen, dass es die Gehörlosengemeinde gibt und auf sie verweisen. Strukturell herausfordernd ist dabei, dass wir noch keine Personalgemeinde sind, sondern eine überparochiale Gemeinde. Wir haben gerade erst den Antrag an die Kirchenleitung abgeschickt, um das zu ändern. Bei den GKR-Wahlen vor kurzem kamen beispielsweise Gemeindeglieder auf mich zu mit einem Brief in lautsprachlicher Grammatik von ihrer Ortsgemeinde und waren irritiert, warum auf einmal ganz andere Menschen für den Vorstand kandidieren. Einige sind schon in der Vergangenheit ausgetreten, obwohl sie weiterhin in unserer Gemeinde ehrenamtlich helfen, nur um dieses „Abo“ aus der hörenden Gemeinde abzubestellen.
Kennen Sie Gemeinden, die Inklusion von gehörlosen Menschen besonders gut umsetzen? Was machen diese anders?
Andreas Erdmann: Es gibt Gemeinden wie in Eberswalde, Finsterwalde und Görlitz, wo es auch Angebote in Gebärdensprache gibt. Aber das hängt eigentlich immer an Pfarrpersonen, die gebärdensprachkompetent sind und solches im Nebenamt oder sogar ehrenamtlich zusätzlich zu der anderen Gemeindearbeit anbieten, sodass es am Ende immer Separation bleibt. Inklusion scheitert bislang an der Sprache. Da Gehörlose nicht „hören lernen“ können, bleibt es an den Hörenden, die Gebärdensprache zu lernen.
Wie unterscheidet sich die Situation gehörloser Menschen in ländlichen Gemeinden im Vergleich zu städtischen?
Andreas Erdmann: Im Wesentlichen dadurch, dass auf dem Land die Bevölkerungsdichte und somit auch die Dichte an Gehörlosen geringer ist und daher auch weniger Angebote für Gehörlose zu finden sind.
Welche Schritte wären notwendig, um Kirchengemeinden flächendeckend barrierefrei(er) zu machen?
Andreas Erdmann: Auf Gehörlose bezogen: alles in Gebärdensprache anbieten! Aber vielleicht ist das utopisch. Doch wenn zum Beispiel Menschen von anderen Landeskirchen hierherziehen, dann bekommt die Ortsgemeinde die Meldedaten. Wenn beim Begrüßungsschreiben eine Information in Gebärdensprache dabei wäre, die auf die Gehörlosengemeinde hinweist, wäre das eine große Hilfe. Auch im Schaukasten, auf der Homepage und im Gemeindebrief unter „Kontakt“ könnte so ein Gebärdensprachsymbol mit QR-Code von uns sein, durch den Gehörlose auf uns aufmerksam werden und sehen, dass es in unserer Landeskirche auch für sie einen Ort gibt, wo sie Heimat finden. Bei Interesse können Gemeinden dafür gerne auf uns zukommen.
Gero Scholtz: Auch wenn Menschen umziehen oder sterben, bekommt die hörende Gemeinde Bescheid, aber wir wissen das nicht. Wir schicken fröhliche Geburtstagsbriefe und Verwandte antworten, dass die Person schon gestorben ist. Hier würde die Änderung hin zur Personalgemeinde als nächster Schritt helfen.
Gero Scholtz ist in der Evangelischen Gehörlosengemeinde in Berlin, die als überparochiale Gemeinde der EKBO auch Gemeinde für Gebärdende in Brandenburg und der schlesischen Oberlausitz ist. Andreas Erdmann ist in der Gehörlosenseelsorge tätig und hat dazu eine Stelle als Religionslehrer an der Ernst-Adolf-Eschke-Schule mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt Kommunikation und Hören.
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