Artikel teilen:

Wach bleiben und den armen Lazarus nicht vergessen

Die Gethsemanekirche im Berliner Prenzlauer Berg ist 120 Jahre alt geworden.

Von Gunnar Lammert-Türk

Als Konzertkirche war sie zur Zeit der DDR auch bei Nicht-Christen bekannt und beliebt. Vor allem die Auftritte des Berliner Domchors trugen dazu bei. Und noch etwas zeichnete sie aus: Im Gegensatz zu anderen freistehenden Kirchen der Kaiserzeit fasste ein Metallzaun das sie umgebende Gelände ein. Zwei Eigenheiten, die die Kirche im Herbst 1989 zum Zufluchtsort für viele machte, die gegen das Regime auf die Straße gingen. Denn am Zaun machte die Gewalt Halt, die sich am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, und in den Tagen darauf, gegen friedliche Demonstranten richtete. Die Polizisten und die Kräfte der Staatssicherheit wagten nicht, auf das Kirchengelände vorzudringen. Die Bekanntheit der Kirche als Konzertraum hielt die Schwelle niedrig, die Kirchenferne oft empfanden. Freilich, die Gemeinde, die seit Anfang der 1980er Jahre einen politisch wachen Friedenskreis besaß, hatte vielen staatlich unerwünschten und bedrängten Menschen ihre Räume geöffnet, unabhängig von ihrer Kirchenzugehörigkeit, darunter neben Ausreisewilligen auch dem „Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe – Lesben in der Kirche“. Das Motiv für dieses Engagement beschreibt das langjährige Gemeindeglied Ursula Kästner so: „Wir wollten den am System Erkrankten Gerechtigkeit verschaffen und ihnen eine Stimme geben.“

Mahnwache in der Kirche

Zunehmend verlangten die so Gestärkten, dass ihr Protest von der Kirche unterstützt wird. Anfang Oktober 1989 sah sich die Gemeinde deshalb vor eine schwere Entscheidung gestellt. Junge Menschen wollten ihre Solidarität mit politischen Gefangenen durch eine Mahnwache in der Kirche zum Ausdruck bringen. Dieter Wendland, damals Mitglied im Gemeindekirchenrat, erinnert sich: „Wir fragten uns, sind die jungen Leute der arme Lazarus, der vor unserer Tür liegt? Lassen wir die Mahnwache rein? Und dann haben alle dafür gestimmt.“ In den kommenden Tagen hielten sich oft mehr als 3000 Menschen in der Kirche auf, überwanden mit Hilfe der allabendlichen Fürbittgottesdienste ihre Sprachlosigkeit und fanden den Mut zum gewaltlosen Widerstand.

Weiterlesen