Der Zeitpunkt war mit Bedacht gewählt. Am 16. Oktober 1943, dem Sabbat-Morgen, als die jüdischen Familien zuhause waren, riegelten SS-Einheiten das jüdische Ghetto in Rom ab. Sie trieben die Bewohner aus ihren Wohnungen heraus wie auch in anderen Teilen der Stadt, wo weitere SS-Leute mit Adressenlisten der jüdischen Bewohner unterwegs waren.
Insgesamt wurden 1.259 jüdische Menschen in ein ehemaliges Militärkolleg in der Nähe des Vatikans gebracht. Die Zahl erhöhte sich um eins, weil eine schwangere Frau aufgrund der traumatischen Ereignisse vorzeitig ihr Kind gebar. Zwei Tage später wurden die Gefangenen in 18 fensterlose Viehwaggons gequetscht, am 23. Oktober kamen sie dann in Auswitz an. Es überlebten nur 16.
US-Historiker erhob Vorwürfe gegen Pius XII.
Der US-amerikanische Historiker David Kertzer erhebt in seiner im vergangenen Jahr veröffentlichten Darstellung über Pius XII. den Vorwurf, der Vatikan habe zwar Juden geholfen, aber nur dann, wenn sie getauft waren oder in einer Ehe mit einer getauften Person lebten. Tatsächlich prüften die Deutschen bei den Gefangenen im Militärkolleg die Dokumente und ließen diese Personen frei. “Man befand sich ja schließlich in Rom, nicht in Polen oder Russland, und die Deutschen wollten den Vatikan nicht über die Maßen provozieren”, schreibt der Historiker.
Der Abtransport der römischen Juden quasi unter dem Fenster des Papstes ist auch eine Schlüsselszene in dem 1963 veröffentlichten Drama “Der Stellvertreter”. Der Schriftsteller Rolf Hochhuth (1931-2020) klagte Papst Pius XII. an, er habe zum Mord an den Juden geschwiegen, und die Kirche habe zuwenig dagegen getan.
Ein jüngst veröffentlichter Brief an Papst Pius XII. lässt erkennen, dass er seit spätestens Dezember 1942 über die Vorgänge in den Vernichtungslagern in dem von Deutschen besetzten Polen informiert war. Anfang Oktober findet an der päpstlichen Gregoriana-Universität ein Kongress zur Rolle von Papst Pius XII. in der Nazizeit statt.
Tatsächlich blieben Papst und Vatikan nicht untätig
In den verschiedensten kirchlichen Einrichtungen fanden Juden wie auch andere von den Nazis Verfolgte eine Zuflucht, mehr als einmal über das Fassungsvermögen hinaus. Das war nur möglich mit dem Einverständnis des Papstes.
Eine vor kurzem wiedergefundene Liste mit den Namen von in Klöstern versteckten Juden ist im Archiv des Päpstlichen Bibelinstituts aufgetaucht. Erstellt hatte das Dokument der italienische Jesuit Gozzolino Birolo unmittelbar nach der Befreiung Roms 1944 durch die Alliierten. Die Liste umfasste mehr als 4.300 Menschen, von denen 3.600 namentlich genannt wurden. 3.200 waren mit Sicherheit Juden, wie ein Abgleich mit dem Archiv der jüdischen Gemeinde ergab.
Nicht nur in Rom und Umgebung war die Kirche aktiv. In Florenz gab es ein interreligiöses Netzwerk unter der Leitung des Erzbischofs, Kardinal Elia dalla Costa (1872-1961). Der Kardinal schickte einen Brief an alle Klöster in und um Florenz mit der Bitte, ihre Türen für die verfolgten Juden zu öffnen.
Yad Vashem beschrieb das als “Anfang einer einzigartigen Initiative – einer christlich-jüdischen Zusammenarbeit zwischen Erzbischof Dalla Costa und seinem Klerus einerseits und jüdischen Führungspersönlichkeiten wie Raffaele Cantoni und Rabbi Nathan Cassuto andererseits”.
Briefe belegen: Der Heilige Stuhl reagierte auf Hilferufe
Hilfe der Kirche und insbesondere des Heiligen Stuhls für Juden war zugleich ein über Italien hinaus reichendes Unterfangen. Der Münsteraner Historiker Hubert Wolf hat bei seinen Forschungen zu Pius XII. nach der Öffnung der Archive 2020 bis dahin unbekannte Bittschriften an den Papst gefunden, die er mit einem Team bearbeitet. Der Historiker Matthias Daufratshofer erklärt in der Projektbeschreibung, dass mehr als 15.000 Menschen aus ganz Europa den Papst um Hilfe gebeten hätten.
Das Team um Wolf arbeitet diese Briefe auf. Eine erste Analyse der Quellen ergab, dass der Heilige Stuhl wann immer möglich auf Hilferufe reagiert habe, etwa mit Geld, Essen oder einem Visum. Wolf schreibt, dass das Bild von Pius XII. vielschichtiger gezeichnet werden müsse als bisher üblich.