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Vor 30 Jahren wurde männliche Homosexualität entkriminalisiert

Eine Liebesbeziehung zwischen zwei Männern war in Deutschland lange Zeit nicht erlaubt. Erst nach der Wiedervereinigung wurde die Strafbarkeit endgültig aufgehoben. Aber damit ist längst noch nicht alles erreicht.

“Ich war erstaunt, als ich 1994 erfahren habe, dass der Paragraf abgeschafft worden ist”, sagt Georg Härpfer im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Er engagierte sich von der Gründung im Jahr 2015 bis 2019 im Vorstand der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS) für Entschädigungszahlungen an schwule Männer, die auf Grundlage von Paragraf 175 des Strafgesetzbuches verurteilt worden waren. Am 11. Juni 1994 wurde dieser gestrichen.

Seit dem Frühmittelalter galt Homosexualität in Europa als Verbrechen. Seit 1870/71 war unter der Nummer 175 “widernatürliche Unzucht” zwischen Männern im Reichsstrafgesetzbuch aufgeführt. Die Nationalsozialisten verschärften den Paragrafen, so waren nicht mehr nur sexuelle Handlungen, sondern schon Zungenküsse und später eine “wollüstige Absicht” strafbar. Bis 1945 verurteilten die Nazis nach Zahlen des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) rund 50.000 Männer, von denen die meisten in Konzentrations- und Vernichtungslagern starben. In der Bundesrepublik blieb Paragraf 175 in der Fassung der Nationalsozialisten bis 1969 in Kraft.

Ab 1969 war Geschlechtsverkehr zwischen erwachsenen schwulen Männern nicht mehr strafbar. Dabei mussten jedoch beide Partner mindestens 21 Jahre alt sein. Bei heterosexuellen Paaren lag die Grenze hingegen je nach Situation bei 14 oder 16 Jahren. Zwar hatte Paragraf 175 laut Härpfer dadurch schon in der Gesellschaft keine Bewandtnis mehr. Die BISS habe jedoch “mit Erstaunen festgestellt, dass es in der Zeit von 1970 bis 1994 noch zu Verurteilungen bei einvernehmlichem Sex kam”.

In der DDR wurde Homosexualität unter Erwachsenen bereits 1968 entkriminalisiert. 1988 fielen die letzten Sonderregelungen. An ihre Stelle rückte eine einheitliche Jugendschutzvorschrift.

Der Paragraf habe in viele Bereiche hinein gewirkt, erinnert sich der Soziologe und Vorstandsmitglied des LSVD, Jörg Hutter. Informationsstände in Innenstädten seien verboten gewesen, Begegnungen hätten immer im Verborgenen stattgefunden. Im Interview mit der KNA weist er darauf hin, dass durch Paragraf 175 Menschenrechte verletzt worden seien. Für schwule Männer sei dies der Normalzustand gewesen.

Auch heute sei in Deutschland rechtlich noch nicht alles erreicht, was wünschenswert sei, so Hutter. Als Teil des LSVD-Vorstands begrüßt er die im April vorgelegten Vorschläge einer Expertenkommission der Bundesregierung zur Legalisierung von Leihmutterschaft und Eizellspende. Leihmutterschaft biete etwa homosexuellen Männern neue Perspektiven zur Familiengründung. “Wo wird da das Problem gesehen?”, fragt Hutter auch mit Blick auf die Kritik des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing. Dieser verwies auf die Würde der Frau und des Kindes, die verletzt würden. Hutter sieht diese Gefahr bei einer Leihmutterschaft nicht grundsätzlich gegeben. Das Kindeswohl könne im Zusammenleben in einer Familie mit den leiblichen Eltern ebenso gefährdet sein.

Auch wenn in der Gesellschaft der Wegfall von Paragraf 175 keine große Rolle spielte, bedeute dies nicht, dass es keine Homofeindlichkeit mehr gebe. Härpfer und Hutter berichten unabhängig voneinander von Anfeindungen im Alltag – mal direkt, mal eher unauffällig. Es besorge sie, dass Homo- und Transfeindlichkeit noch immer ein großes Problem darstelle und die sichtbare Fallzahl steige. So lag die Zahl der polizeilich erfassten Delikte laut Bundesinnenministerium bei über 1.000 im Jahr 2022, zehn Jahre zuvor waren es noch 186. Im Themenfeld “geschlechtsbezogene Diversität” wurden demnach 417 Fälle an das Bundeskriminalamt gemeldet (2021: 340 Fälle).

Nicht zuletzt würden auch Menschen, “die dem muslimischen Spektrum zuzurechnen sind”, Trans-Menschen und Homosexuelle anfeinden, so Hutter. Gleichzeitig sieht er in den steigenden Zahlen eine positive Entwicklung: So würden heute immer mehr Fälle polizeilich verfolgt und aufgeklärt. Auch führten geschaffene Strukturen dazu, dass Betroffene sich eher trauten, entsprechende Vorfälle zu melden.

30 Jahre nachdem die Kriminalisierung von männlicher Sexualität in Deutschland endete, fordert Härpfer eine weitere Gesetzesänderung – und zwar eine elementare: Im Grundgesetz solle explizit aufgeführt werden, dass Menschen nicht aufgrund ihrer sexuellen Identität benachteiligt werden dürfen. Diese Erweiterung schütze etwa das Gesetz zur Ehe für alle oder das Rehabilitierungsgesetz für die durch Paragraf 175 verurteilten Männer.

Mit Blick auf die kommenden 30 Jahre hofft Härpfer, dass es egal werde, ob man mit einer Frau oder einem Mann zusammenlebe. “Dass jeder sein Leben leben kann, ohne Sorgen und ohne Ängste, das ist mein Wunsch.”