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Versöhnung als Lehre des Kriegs

Auf dem Hartmannswillerkopf in den Südvogesen bekämpften sich Deutsche und Franzosen in einem erbitterten Stellungskrieg. 100 Jahre später wirbt dort das „Historial“ für Versöhnung – und gibt Einblicke in das, was Soldaten auf beiden Seiten fühlten

Fabienne Fessler

Schattenmänner mit Gewehren im Anschlag schleichen durch den Wald. „Menschenfresserberg“ wird die Gegend genannt. Es schneit, Schüsse krachen. Ein deutscher Soldat stöhnt – er hat Angst davor, die Stellungen der französischen Gegner erneut angreifen zu müssen. Dann Perspektivwechsel: Ein Sprecher trägt die Erinnerungen eines französischen Soldaten vor. Schon wieder geht das Morden los – und vielleicht morgen schon ist er nicht mehr der Verteidiger, sondern selbst der Angreifer.
Die audiovisuelle Präsentation im „Historial“ auf dem französischen Hartmannswillerkopf zitiert Originalberichte von Soldaten. Und sie führt die ganze Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen, des Tötens und Getötetwerdens für ein paar Meter Erde.
Das „Historial“ ist eine Mischung aus Museum, Begegnungszentrum und Erinnerungsort – und das erste deutsch-französische Projekt dieser Art zum Ersten Weltkrieg (1914-1918). Eröffnet haben es im vergangenen November der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundespräsident Frank Walter Steinmeier. Dort, auf einem fast 1000 Meter hohen Bergkamm in den Südvogesen mit strategisch wichtigem Ausblick auf die Rheinebene und das elsässische Hinterland, brachten sich vor 100 Jahren Deutsche und Franzosen gegenseitig um.
Das Besondere des blattförmigen Museums aus Beton und Holz: Es präsentiert die deutsche und die französische Sicht auf die Kämpfe nebeneinander. Das „Historial“ liegt in Sichtweite einer Gedenkstätte, eines französischen Soldatenfriedhofs und des bis heute von Granattrichtern und Laufgräben zerfurchten Schlachtfelds. Auf 4,7 Millionen Euro belaufen sich die Kosten des vor allem von französischen Institutionen getragenen Projekts. Geschichtswissenschaftler aus beiden Ländern haben dafür in einem Beirat zusammengearbeitet.
Vor allem jungen Menschen aus ganz Europa, die keine Augenzeugen des Weltkrieges mehr kennengelernt hätten, solle „gezeigt werden, was hier geschehen ist“, sagt Florian Hensel, Kurator des „Historial“. Filme und Dokumente führen auf Französisch, Deutsch und Englisch vor Augen, wie die europäischen Nationen durch übersteigertes Nationalgefühl und Großmachtstreben in den Weltkrieg schlitterten.
Briefe und Tagebuchaufzeichnungen einfacher Soldaten lehren: Franzosen und Deutsche haben bei den Kämpfen auf der Bergkuppe dasselbe erlebt und erlitten. „Nie wieder!“, lautet die Botschaft der Frontkämpfer.
Besonders Schulklassen sollen mit auf den Weg nehmen, dass es wichtig ist, für Versöhnung und ein friedliches Europa einzustehen, sagt Historiker Hensel. Die gemeinsame Erinnerung an das Geschehene mahne auch, „die Augen offen zu halten, damit es nie wieder Krieg gibt“, sagt er. Rund 20 000 Menschen vor allem aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz haben das Museum bisher besucht. Sie können Geschichte „mitschreiben“, indem sie etwa Fotos, Briefe und Informationen aus ihrem Familienarchiv einbringen. Ein interaktiver Monitor listet alphabetisch die Namen der Gefallenen auf dem Hartmannswillerkopf auf.
Vor allem zwischen 1914 und 1916 fand dort ein erbitterter Stellungskrieg statt, dem rund 25 000 Soldaten auf beiden Seiten zum Opfer fielen. Anselme François starb nur 22-jährig an Weihnachten 1915, Kurt Albert war 25 Jahre, als er im Januar 1916 den Tod fand. Militärisch waren die Kämpfe ein Misserfolg: Der Krieg zog Ende 1915 weiter, nach Verdun und an die Somme. Doch bis zum Kriegsende 1918 lieferten sich die Gegner an dem Nebenkriegsschauplatz weiter Artilleriegefechte.
Der Geschichtslehrer Tobias Rist von der August-Macke-Schule in Kandern im baden-württembergischen Landkreis Lörrach findet es „sehr wichtig“, dass seine Schüler wissen, was sich vor drei Generationen auf der anderen Rheinseite abgespielt hat. Gemeinsam mit Kollegen und drei Klassen mit 56 Jugendlichen hat er das „Historial“ besucht. „Freiheit in Europa ist nicht selbstverständlich“, sagt Rist, man müsse dafür etwas tun.
Von dem Leid im Krieg und auf dem Schlachtfeld haben junge Menschen keine Vorstellung, weiß Gilbert Wagner, der Präsident des örtlichen „Comité du Monument National du Hartmannswillerkopf“. Dass sich Deutsche und Franzosen über Jahrhunderte in einer „Erbfeindschaft“ bekriegten, sei für die jüngere Generation völlig unverständlich, erzählt der 68-jährige Elsässer, der seit 30 Jahren Besuchergruppen über die Gedenkstätte und das ehemalige Schlachtfeld führt.
Der Berg ist Teil seiner Familiengeschichte: Sein Großvater und der Großvater seiner Frau kämpften dort gegeneinander – beide überlebten das Gemetzel. Wagner zeigt sich gelassen, wenn sich mancher Jugendliche bei einem Schulausflug nicht wirklich dafür interessiert, was auf dem Bergkamm in den Vogesen passierte: „Von dem, was sie hier hören und sehen, bleibt etwas hängen“, ist er dennoch überzeugt.

Das „Historial“ auf dem Hartmannswillerkopf im Elsass ist täglich von 30. März bis zum 13. November geöffnet. Internet: www.memorial-hwk.eu.