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Vergrabene Geschichte – Untergrund-Archiv aus dem Warschauer Ghetto

Sie wurden vor den Nazis in Milchkannen versteckt: Zehntausende Notizen und Briefe aus dem Warschauer Ghetto, die NS-Verbrechen dokumentieren. Der Geburtstag von Archiv-Gründer Emanuel Ringelblum jährt sich zum 125. Mal.

Ein “bewusster Akt jüdischer Selbstermächtigung”: So nennt der israelische Historiker Uriel Kashi das, was Emanuel Ringelblum und andere Mutige im Warschauer Ghetto wagten. Sie legten ein heimliches Archiv über Leben und Tod polnischer Jüdinnen und Juden unter dem Nazi-Regime an. Männer und Frauen sammelten Dokumente über Morde und Deportationen, Notizen über das Ghetto, private Fotos und Briefe, Zeichnungen, Ausweise und vieles mehr – in der Hoffnung, dass die Nachwelt von den Verbrechen erfährt. Der Historiker Ringelblum, vor 125 Jahren am 21. November 1900 in Buczacz (Ukraine) geboren, überlebte wie die meisten seiner Gruppe die Schoah nicht.

Nach Angaben des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, das geborgene Unterlagen beherbergt, ist das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos eines der wichtigsten Zeugnisse des Holocaust. Demnach enthält das Ringelblum-Archiv, das auf der Unesco-Welterbeliste steht, rund 35.000 Dokumente. Diese wurden seinerzeit in Milchkannen und Behältern vergraben. Zwei unterirdische Verstecke wurden in den Jahren 1946 und 1950 gefunden, Teile des Archivs waren bereits in Deutschland zu sehen.

“Während das NS-Regime darauf abzielte, die jüdische Bevölkerung und ihre Erinnerung auszulöschen, bewahrten die Mitglieder des Archivs die Stimme einer Gemeinschaft, die dachte, schrieb, zweifelte und handelte”, sagt Kashi, Landesbeauftragter Israel von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Die Dokumente zeigten Alltag, kulturelle Arbeit und moralische Dilemmata im Ghetto. Und machten deutlich, dass Jüdinnen und Juden selbst unter Verfolgung und Entrechtung “handelnde Subjekte ihrer Geschichte” bleiben wollten.

Da ist Ringelblum selbst. Ein Film auf der Internetseite der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem stellt Notizen von ihm vor: “Juden begannen zu schreiben. Jeder schrieb. Journalisten, Schriftsteller, Lehrer, öffentliche Personen, Jugendliche, sogar Kinder.” Man habe die ganze Wahrheit offenlegen wollen, “so bitter sie auch sein mochte”.

Eine dieser bitteren Wahrheiten sind die Ereignisse, die Beniamin Rozenfeld in seinen Zeichnungen festgehalten hat. Zum Beispiel die erschütternde braun-schwarze Zeichnung, auf der ein Mann mit gebrochenem Gesichtsausdruck einen Karren mit seiner toten Ehefrau zieht, die beinahe nur noch ein Strich ist. Oder die Künstlerin Gela Seksztajn, die so zitiert wird: “Ich bin nun ruhig und dazu bestimmt, getötet zu werden.” Ihr Appell an die Nachgeborenen: “Lasst nie wieder eine solche Katastrophe zu.”

Auch Historiker Kashi blickt speziell auf junge Leute und sagt, warum sie sich heute mit dem Archiv beschäftigen sollten. Dieses zeige, “wie wichtig es ist, selbst Verantwortung für Erinnerung und Wahrheit zu übernehmen”. Es lehre, dass Geschichte nicht von selbst erzählt werde, “sondern dass sie bewahrt, befragt und gegen das Vergessen verteidigt werden muss”.

Das Archiv trägt den Namen “Oneg Schabbat” (“Schabbatfreude”), weil sich die Männer und Frauen am jüdischen Ruhetag trafen. Diese Zusammenkünfte fanden unter dem Schutz der Organisation Jüdische Soziale Selbsthilfe statt. Ringelblum war bereits vor dem Zweiten Weltkrieg vielfältig sozial engagiert und führte dies auch unter Ghetto-Bedigungen und der deutschen Besatzung in Polen weiter.

Seit September 1939 machte er sich nach Angaben des Jüdischen Historischen Instituts Notizen in Tagebuchform. Daraus wurde ab 1940 mit Gleichgesinnten das Archiv-Unterfangen, das vom Alltag im Ghetto bis hin zur Vernichtung der polnischen Juden insgesamt reicht.

Nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen errichteten die deutschen Besatzer 1940 im Warschauer Zentrum das Ghetto. Dorthin wurden Jüdinnen und Juden aus ganz Polen zwangsweise gebracht. Zu Spitzenzeiten waren 445.000 Menschen in dem Gebiet eingeschlossen. Am 19. April 1943 erhoben sich Männer und Frauen gegen die Übermacht von SS und Wehrmacht. Fast vier Wochen dauerte es, bis die SS den Aufstand niederschlug. Insgesamt forderten die Kämpfe mehr als 12.000 Tote. Weitere über 30.000 Menschen wurden anschließend erschossen, 7.000 in Vernichtungslager transportiert.

Ringelblum tauchte mit seiner Familie 1943 bei polnischen Helfern unter. Sie durchliefen mehrere Verstecke, bis sie am 7. März 1944 entdeckt wurden. Die Familie wurde in den Ruinen des Warschauer Ghettos erschossen.