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Uwe Müller: Abschied nach 37 Jahren Telefonseelsorge

Uwe Müller geht nach 37 Jahren als Leiter der Telefonseelsorge Berlin in Ruhestand. Ein Blick auf seinen Weg, seine Arbeit und die Bedeutung der Seelsorge in Zeiten gesellschaftlicher Verunsicherung.

Uwe Müller gründete trotz staatlichen Misstrauens die erste Telefonseelsorge in der DDR – nun, vierzig Jahre später, geht er in den Ruhestand (Archivbild von 2024)
Uwe Müller gründete trotz staatlichen Misstrauens die erste Telefonseelsorge in der DDR – nun, vierzig Jahre später, geht er in den Ruhestand (Archivbild von 2024)Imago / Emmanuele Contini

„Ich finde es mutig und bewundernswert, wenn Menschen bei der Telefonseelsorge mitarbeiten“, sagt Uwe Müller. Seit 37 Jahren leitet er die Kirchliche Telefonseelsorge Berlin. Nun geht er in den Ruhestand. Denn es wird viel verlangt von den Ehrenamtlichen am Telefon. Vor allem, dass sie sich in ihrer einjährigen Ausbildung mit eigenen Krisen und Konflikten auseinandersetzen, nachspüren, wie sich in ihrem Leben Schmerz, Hilflosigkeit, Scham und Schuld angefühlt haben, was ihnen half und welche Lösung sie fanden. „Das gibt ihnen die Möglichkeit nachzuempfinden, wie es den Anrufenden gerade geht.“

Uwe Müller kam erst als Teenager zum Glauben, in der offenen Jugendarbeit in Berlin-Karlshorst. Mit 18 Jahren ließ er sich taufen. Erst lernte er Kfz-Mechaniker, dann absolvierte er die kirchliche Ausbildung „Gemeindediakonie und Sozialarbeit“ in Potsdam. Hier kam er das erste Mal mit dem Fach Gemeinwesenarbeit in Kontakt. Den Begriff gab es im Osten nicht. Kirchenrat Schneider öffnete ihm die Augen für die christliche Seite von Gemeinwesenarbeit mit einer Andacht über „Suchet der Stadt Bestes“ (Jeremia 29,7). „Schneiders Ruf, raus auf die Straße, Augen und Ohren auf und guckt, was die Menschen in der Stadt brauchen, scheuchte uns auf“, so Uwe Müller. „Wir waren Mitte 20, frisch ausgebildet und hatten Rosinen im Kopf.“ So schlugen Uwe Müller und sein Freund Wolf-Rüdiger Uth dem Diakoniedirektor im Jahr 1986 neun Projekte vor, die sie für dringend notwendig hielten. Darunter war eine Telefonseelsorge. In Westberlin gab es sie schon seit 1956. In Ostberlin war keine Beratung nach 20 Uhr erreichbar.

Aufbauarbeit im Osten

Die Farbe in den Räumen in der Französischen Friedrichstadtkirche war noch frisch, als am 1. November 1988 zum ersten Mal das Telefon klingelte. Die Telefonseelsorge startete zunächst von 18 bis 6 Uhr. „Die Leute riefen aus ihren Betrieben an, blieben dafür abends länger, denn nur wenige hatten ein Telefon“, erinnert sich Müller. „Oder sie stellten sich den Wecker, um nachts in die Telefonzelle zu gehen.“ Bei politischen Themen warnten die Ehrenamtlichen die Anrufenden: „Seien Sie vorsichtig. Es könnte sein, dass nicht nur wir beide am Telefon sind.“ Doch viele sagten: „Die Stasi soll ruhig lauschen, damit sie wissen, was uns bewegt.“

Ein Jahr später kam die Wende. Plötzlich war Arbeitslosigkeit ein Thema. Die ersten Arbeitslosen waren Mitarbeiter der Staatssicherheit. „Sie riefen an und fühlten sich als Opfer. Und auf der anderen Seite saßen kirchliche Mitarbeiter, die Ehrenamtlichen, die sich auch als Opfer fühlten. Das waren sehr spannende Auseinandersetzungen.“ Auch das Thema Einsamkeit häufte sich. „Weil sich das soziale Gefüge, das Beziehungsnetzwerk in der DDR, sehr veränderte.“

Ein Mann für alle Fälle

Nach mehreren Umzügen konnte der 24-Stunden-Dienst beginnen. Als Sprecher für die Region Ost im Vorstand des Bundesverbandes der Telefonseelsorge baute Uwe Müller die Telefonseelsorge in den neuen Bundesländern mit auf. In Brandenburg kamen Cottbus und Frankfurt hinzu. Auch die russische Telefonseelsorge startete, ebenso wie das übernommene insolvente Berliner Kinder- und Jugendtelefon, später das Elterntelefon, die muslimische Telefonseelsorge und schließlich die Chatseelsorge. „Alle paar Jahre gab es eine neue spannende Herausforderung.“ Jeder kann rund um die Uhr bei der kostenlosen kirchlichen Telefonseelsorge Berlin anrufen. Mehr als 28.000 Anrufe im Jahr gehen hier ein, bundesweit sind es eine Million. Die Themen reichen von Krisen in Beziehungen, Familie, Ehe und Kindern über Tod, Trauer, Einsamkeit und psychische Belastungen.

Auch Verunsicherungen, ausgelöst durch politische Debatten zu Missbrauch, Kriegsgefahr oder Wehrpflicht, nehmen zu. „Keine halbe Stunde später haben wir hier die ersten Anrufer“, sagt Müller. „Wir sind so etwas wie der Seismograf dessen, was in der Gesellschaft gerade los ist und wir fangen Verunsicherungen auf. 180 Ehrenamtliche nehmen die Anrufe entgegen. Uwe Müller ist ihr Ansprechpartner, bildet sie mit einem multiprofessionellen Team aus. Er füllt aber auch den Kühlschrank, prüft Telefonleitungen oder tauscht Schlösser. Und er ist erreichbar, wenn schwierige Situationen auftreten. „Ich habe an 365 Tagen im Jahr 24 Stunden Hintergrunddienst. Ich gehe nie ohne Handy aus dem Haus und es liegt immer auf dem Nachttisch.“

Ein liebevoller Blick auf die Menschen

„Der liebevolle Blick auf die Menschen“ sei das Besondere an der christlichen Telefonseelsorge. Anrufende müssten spüren, „dass sie es hier mit Menschen mit einem christlichen Menschenbild zu tun haben, die vorurteilsfrei zuhören“. Und: „dass wir stellvertretend Hoffnung haben.“ Viele Anrufende seien hoffnungslos. Deshalb setzten sich die Ehrenamtlichen in ihrer Ausbildung auch mit ihrem Glauben auseinander. Nicht missionarisch – sondern als Ressource für Halt und Lebensorientierung. Uwe Müller selbst erlebte das, als seine erste, zu junge Ehe zerbrach. „Es gab viele Situationen, wo ich gesagt habe: lieber Gott, ich schaff das nicht mehr. Und dann kam immer einer und sagte: Komm, hier ist ein Krug Wasser, hier ein Stück Brot. Schlaf dich aus. Weiter geht’s.“ Diese „Engel“ seien vielfältig gewesen. Und später seine neue Liebe und drei Kinder – „ein Kraftquell seit 25 Jahren“.

Heute ist das Anrufaufkommen so hoch, „dass wir sie nicht alle bedienen können“. Viele müssten sechs- oder siebenmal anrufen, bis sie durchkommen. Müller wünscht sich mehr Erreichbarkeit und Stabilität der Telefonseelsorge in Brandenburg – besonders in Cottbus und Frankfurt, wo Ehrenamtliche schwer zu finden sind. Ulrike Feldhoff, seit 30 Jahren am Telefon, sagt: „Ich gönne ihm den Ruhestand von Herzen. Aber ich kann es mir noch nicht vorstellen, dass er nicht mehr da ist.“ Sie schätzt das Vertrauen, die gemeinsame Arbeit, seine Ansprechbarkeit und dass er Verantwortung abgegeben hat, etwa an den Sprecherkreis.

Am 28. November um 14 Uhr wird Uwe Müller im Gottesdienst in der Gethsemanekirche Berlin-Prenzlauer Berg verabschiedet.