Greifswald (epd). Die Tragödie beginnt am frühen Morgen des 8. März 1977. Familie Sender will zurück – zurück aus der DDR in die Bundesrepublik. 16 Jahre zuvor sind Ulla und Heinz-Georg Sender den umgekehrten Weg gegangen, haben die Bundesrepublik fluchtartig verlassen und sind in die DDR gezogen. Nun wollen sie wieder in den Westen – zusammen mit ihren drei Kindern Susanne, Beate und Christoph. Über die Ostsee wollen sie fliehen, mit zwei Paddelbooten. Doch die Flucht geht auf dramatische Weise schief. Eines der beiden Boote kentert – Vater Heinz-Georg und die beiden Töchter ertrinken vor den Augen von Mutter Ulla und Sohn Christoph.
Wie die Senders haben seit dem Mauerbau am 13. August 1961 bis zur deutsch-deutschen Grenzöffnung 1989 rund 5.600 Menschen die Flucht über die sogenannte «nasse Grenze» gewagt. Rund 80 Prozent von ihnen wurden bei dem Versuch verhaftet, vermutlich 913 (etwa 16 Prozent) ist die Flucht gelungen und mindestens 174 Menschen kamen bei ihrem Fluchtversuch ums Leben, weiß der Wissenschaftler Henning Hochstein von der Universität Greifswald. «Ihre Leichen wurden an die Strände zwischen Fehmarn, Rügen und Dänemark gespült oder im Meer in Fischernetzen gefunden.»
Seit zwei Jahren widmen sich Hochstein und seine Kolleginnen Jenny Linek und Merete Peetz der Aufarbeitung und Aufklärung von Fluchtversuchen über die Ostsee mit tödlichem Ausgang. Für seine Recherchen hat das Team unter anderem in Standesämtern nach Sterbeurkunden recherchiert, die einen Ertrinkungstod als Ursache verzeichnen. In alten Polizeirapporten suchten sie nach gemeldeten Leichenfunden. Am 60. Jahrestag des Mauerbaus am Freitag wird das Team die Ergebnisse in Lübeck präsentieren.
Fluchtversuche über die Ostsee wurden vom gesamten Küstenstreifen aus unternommen – von der Insel Usedom im Osten über den Darß bis ins grenznahe Dassow im Westen. Dabei hätten die Forschungen ergeben, dass in der Region von Dassow bis Kühlungsborn die Fluchten meist ohne Hilfsmittel, «maximal mit einem Neoprenanzug», unternommen wurden. In den weiter östlich gelegenen Bereichen seien dann Surfbretter oder «maschinelle Hilfsmittel» zum Einsatz gekommen.
Ein «Hotspot» als Ausgangspunkt der Flucht war Boltenhagen. Von dort bis ins schleswig-holsteinische Dahme sind es 30 Kilometer Luftlinie: «Für viele Flüchtlinge die kürzeste Strecke Richtung Freiheit», sagt Hochstein. Bei gutem Wetter ist von Boltenhagen aus der Leuchtturm von Dahme zu sehen. «Man hatte also eine Richtung, in die man schwimmen oder paddeln konnte, ohne Angst, auf der Ostsee
verloren zu gehen.»
Doch viele haben es nicht geschafft. 75 bestätigte Fluchtfälle mit Todesfolge konnte das Forscherteam bisher belegen, bei weiteren 34 Todesfällen gibt es keine Leiche. Darüber hinaus bleiben viele ungeklärte Verdachtsfälle.
Mit einer «Mischung aus heftigem Fatalismus und Naivität» hätten besonders männliche DDR-Bürger vom späten Teenageralter bis Mitte 30 ihre Überquerungsversuche gestartet. «Den Unterlagen ist zu entnehmen, dass Leute sich nicht selten auch ganz spontan zu so einer Aktion zusammengefunden haben.» Entsprechend seien sie schlecht oder gar nicht vorbereitet gewesen. «Die meisten haben die natürlichen Wettergegebenheiten und die Strömungen auf der Ostsee komplett unterschätzt und sind daran gescheitert.»
Gerade in der westlichen Region um Boltenhagen, in der viele glaubten, in die Freiheit schwimmen zu können, stellten die Forscher einen besonders hohen Grad an Leichenfunden fest. Daran erinnert heute im beliebten Ostseebad ein Gedenkstein für die Toten der Jahre 1961 bis 1989: «Über der Ostsee leuchtete für uns das Licht der Freiheit», ist dort eingraviert.
Für die Forschungsgruppe war überraschend, dass die geplanten Fluchten häufig kein Ausdruck von politischem Protest waren, sondern in der Unzufriedenheit mit dem Leben in der DDR begründet lagen. «Die Enge wurde als so stark empfunden, dass man das alles nicht ausgehalten hat», sagt Hochstein. «Die DDR hat sich ihre Feinde quasi selbst gebacken.»
Ulla und Christoph Sender wurden damals von einer dänischen Schiffsbesatzung gerettet und haben in Westdeutschland ihr Zuhause gefunden. «Die Geschichte der Familie Sender» ist vor einigen Jahren vom dänischen Historiker Jesper Clemmensen aufgezeichnet worden. Auf eine Interview-Anfrage Clemmensens antwortete Ulla Sender: «Ich rede mit anderen Menschen nie über meine Vergangenheit, da es sowieso keiner verstehen will. Immer hieß es: Wie konntet ihr nur?»