Artikel teilen

“Tatort” aus Zürich über alte Wunden und Rachegelüste

Mordermittlungen im neuen “Tatort” aus Zürich führen zu ungesühnten Verbrechen aus dem Krieg in Bosnien – und zu potenziellen Verletzungen des Schweizer Neutralitätsgebots.

Ein beschaulicher Aussichtspunkt im Zürcher Oberland ist Schauplatz eines brutalen Verbrechens. Drei Menschen wurden dort mit Kopfschüssen regelrecht hingerichtet. Von der Waffe und dem oder den Tätern fehlt jede Spur, wie Kommissarin Tessa Ott (Carol Schuler) nach einer Inspektion der Umgebung feststellt.

Ihre Kollegin Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zuercher) untersucht derweil das Auto der ermordeten Marco Tomic (Patric Gehrig) und seiner Frau Julie Perrier (Samia von Arx). Bei der Leiche der Frau stößt sie auf die sechsjährige Ella (Maura Landert). Die Tochter des Paares hatte sich unter dem Rock der Mutter versteckt und dort stundenlang ausgeharrt. Und wahrscheinlich hat das Mädchen den oder die Mörder gesehen. So beginnt der “Tatort: Blinder Fleck” aus Zürich. Tobias Ineichen inszenierte den Krimi nach einem Buch von Karin Eberlein. Das Erste strahlt den Krimi am 24. September um 20.15 Uhr aus.

Bei ihren Ermittlungen teilen sich die Kommissarinnen zunächst auf. Ella fasst sofort Vertrauen zu ihrer Retterin Grandjean und klammert sich verzweifelt an sie. Die Polizistin lässt sich auf die enge Beziehung ein. Sie hofft, dass das Mädchen den ersten Schock bald überwinden und über das Gesehene sprechen wird. Bald erkennt sie, dass Ella ihr einen Hinweis durch ihr Verhalten gibt: Das Mädchen scheut vor ihrem innig geliebten Kanarienvogel zurück. Sie hat offensichtlich Angst vor Tieren und auch Gegenständen, die durch die Luft fliegen.

Ott macht sich derweil an die Spurensuche im Umfeld der Toten. Tomic hatte gemeinsam mit dem Schweizer Inverstor Joel Müller (Ralph Gassmann) das erfolgreiche Startup “Protected View” gegründet. Jakob Bachmann (Uwe Schwarzwälder), der dritte der Ermordeten, war ihr Bankberater. Tomic hatte für das Unternehmen ein Programm entwickelt, das computergesteuerte Gesichtserkennung erschwert.

In der Unternehmungsführung war es über die Verwertung des lukrativen Produkts zum Streit gekommen. Müller wollte die Firma samt Erfindung an das US-Unternehmen “Security Rumpf” verkaufen, wogegen sich Tomic energisch wehrte. Er fürchtete, dass die Amerikaner das Programm in der Schublade verschwinden lassen, um weiter Drohnen und andere Produkte zu verkaufen, die Sicherheit suggerieren und auch in Kriegsgebieten als Angriffswaffen zum Einsatz kommen.

Tomics Widerstand gegen die US-Amerikaner war derweil von eigenen Erfahrungen im Bosnien der 1990er Jahre geprägt. Er stand damals in den Reihen jener bosnisch-kroatischen Soldaten, denen Beteiligung am Massker von Ahmici vorgeworfen wurde. 120 Muslime, darunter viele Frauen und Kinder, fielen dem – realen – Massaker am 16. April 1993 zum Opfer; es gilt als Kriegsverbrechen.

Unter den Tätern, von denen der Spielfilm erzählt, war neben Tomic auch Bachmann, der sich seinerzeit als Söldner verdingte. Aus der Schweiz stammt auch ihr Kumpan Lars Diemer (Marcus Signer), der als einziger aus dem Trio für das damalige Verbrechen verurteilt wurde. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis war er erst wenige Tage vor dem Dreifachmord nach Zürich zurückgekehrt. Sein Auftauchen reißt alte Wunden in der Exil-Gemeinde aus Ex-Jugoslawien auf und weckt Rachegelüste.

Die Ereignisse, die Diemers Rückkehr innerhalb der bosnisch-kroatischen Exil-Gemeinde auslöst, werden parallel zu den Ermittlungen der beiden Kommissarinnen gezeigt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer erkennen also frühzeitig eine weitere potenzielle Triebfeder hinter den Morden. Vor allem richten die Macher des Zürcher “Tatorts” erneut den Blick auf einen blinden Fleck im Geschichtsbild des eigenen Landes: Dass ihre Landsleute an Kriegsverbrechen auf dem Balkan beteiligt waren, ist weitgehend unbekannt.

Ebenso machen sich Grandjean und Ott wenig Illusionen, dass die strengen Schweizer Gesetze zur Ausfuhr von Waffen nicht unterlaufen werden. Der politische Background wird dezent in die Story eingebettet. Im Zentrum stehen die Ermittlungen von Grandjean und Ott und die Dynamik, die sie im Handeln der Verdächtigen auslösen.