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Studie: Nicht nur Frauen pochen auf besseren Schutz vor Gewalt

Faire Bezahlung, gleiche Rechte, mehr Einsatz gegen Gewalt und Sexismus: Eine neue Studie spießt auch gesellschaftspolitische Missstände auf. Eine Expertin sieht ein Umdenken gefragt – bei Männern.

Es ist ein fast unvorstellbarer Fall: Eine Französin wurde über Jahre von ihrem Ehemann betäubt und von ihm und anderen Männern, kontaktiert über das Internet, missbraucht. 200 dieser Vorfälle filmte der Ehemann; der laufende Prozess gegen 51 Männer sorgt weltweit für Aufsehen. Während Gisele Pelicot, die Betroffene, als Ikone des Kampfs für Frauenrecht gefeiert wird, erschüttert viele, welche Männer unter den Angeklagten sind: ein Feuerwehrmann, ein Krankenpfleger, ein Bauleiter, Ältere und Jüngere.

“Der ganz normale Nachbar von nebenan, Lehrer, Söhne”, so fasst es die Münchner Soziologin Paula-Irene Villa-Braslavsky zusammen. Und: Auch wer selbst kein Straftäter sei, müsse aufhören, sich als unbeteiligt zu betrachten. “Männer sehen und hören, was im Büro, in der Kneipe oder in der Nachbarwohnung passiert. Sie müssen sich als Teil dieser Wirklichkeit begreifen.”

Villa-Braslavsky äußerte sich bei der Vorstellung der Studie “Generation Wir” der Zeitschrift “Brigitte”. Ein Ergebnis: Beim Schutz sehen viele Befragte noch deutlich Luft nach oben. Laut Studie hat jede vierte Frau (24 Prozent) schon selbst häusliche Gewalt erfahren, fast zwei Drittel (63 Prozent) haben sich schon einmal sexuell belästigt gefühlt.

Diese “schlimmen Zahlen” zeigten eine “schlimme Wirklichkeit”, sagt Villa-Braslavsky. Hinzukommt, dass 35 Prozent der befragten Frauen angaben, seit den 1990er Jahren sei die Lage beim Schutz vor Gewalt und Sexismus “unverändert” geblieben. Verbesserungen sieht immerhin knapp die Hälfte (47 Prozent), 11 Prozent dagegen Verschlechterungen. Auch jeder dritte Mann sagte, dass sich in diesem Bereich seit den 1990er Jahren nichts verbessert habe.

Es gelte nicht nur, Mädchen und Frauen zu schützen, sondern auch praktische Folgen von Jungen und Männern zu fordern. Dazu gehöre, das Problem nicht zu belächeln oder kleinzureden, betont die Expertin. Umgekehrt solle die Forderung “erzieht eure Söhne” keineswegs neue Vorwürfe an Mütter nach sich ziehen; auch brauche es selbstverständlich Räume zum Toben. Mit Sprüchen wie “Jungs sind halt so” dürfe jedoch kein übergriffiges Verhalten normalisiert werden. “Frauen haben das Recht, frei von Gewalt zu leben und ihre Körper zu entscheiden – egal, wo sie wohnen, egal, wie sie sich kleiden. Das muss die neue Normalität werden.”

Villa-Braslavsky sieht ein strukturelles Problem, etwa in Bildungseinrichtungen oder auch in der Unterhaltungsbranche. “Nicht jeder Krimi muss eine tote junge Frau als Opfer zeigen – und Männer als Unbeteiligte oder als die, die halt nicht anders können.” Auch von Volksfesten wie dem laufenden Oktoberfest gebe es immer wieder Berichte über Belästigungen, sogenanntes Upskirting, also das Fotografieren unter den Rock; Deutschland sei noch immer nicht der Istanbul-Kovention beigetreten. Das Abkommen des Europarats soll geschlechtsspezifische Gewalt bekämpfen. Anspruch und Wirklichkeit klafften auseinander.

Letzteres gilt laut Studie ebenso für eine gleichberechtigte Bezahlung: Hier sehen 27 Prozent der Frauen keine Fortschritte. Jede vierte Frau rechnet demnach mit einer sehr niedrigen Rente von unter 1.000 Euro monatlich. Die Studie zeigt auch Unterschiede zwischen Ost und West: Während im Westen 24 Prozent der befragten Frauen eine geringe Rente erwarten, sind es im Osten 16 Prozent.

Das steigende Bewusstsein für diese Themen sieht Villa-Braslavsky indes als Hoffnungszeichen – auch für politische und rechtliche Veränderungen. Frauen unterschiedlicher Generationen könnten zudem viel voneinander lernen – vor allem dann, wenn mit manchen Missverständninssen aufgeräumt würde. So gaben 63 Prozent der befragten Frauen an, dass andere Frauen sie im Job häufig unterstützen; nur sechs Prozent sehen sich häufig in Konkurrenz mit anderen Frauen. Unter den Müttern erleben demnach 41 Prozent wechselseitige Unterstützung. “Von wegen Zickenkrieg oder ‘Mummy Wars'”, kommentierte die Verantwortliche für “Brigitte”-Studien, Kristina Maroldt.

Den Angaben zufolge befragte das Meinungsforschungsinstitut forsa 2.006 Personen ab 18 Jahren. Anlass ist auch das 70-jährige Bestehen des Magazins in diesem Jahr.