Im April besucht Bernhard Thiessen den Köpenicker Pfarrer Ralf Musold. Thiessen, Theologe und Kirchenhistoriker, hat eine Dokumentation über die Geschichte der Mennoniten in der DDR erstellt und stieß bei seinen Forschungen auch auf die Stadtkirchengemeinde Berlin-Köpenick. Genauer auf deren ehemaligen Pfarrer Knuth Hansen (1947–2019). Dieser war von 1990 bis 2009 im Dienst und zuständig für Köpenick-Nord und das Kietzer Feld. Zuvor hatte Hansen in der Mennonitengemeinde der DDR gepredigt. Der Film wird beim Gemeindeabend am 19. November in Anwesenheit des Regisseurs gezeigt. 80 Gäste sind in der Stadtkirche dabei.
Knuth Hansen ist ganz er selbst. Sein Ausdruck auf der Leinwand wirkt entspannt und zugewandt. Vor laufender Kamera spricht er über die mennonitische Gemeinde Ostberlins. Das Interview mit ihm führte 1992 der Niederländer Fokke Fennema, der ebenfalls Mennonitenprediger ist. Die Aufnahmen liegen 31 Jahre zurück. 2023 sagt Fokke Fennema ins Mikrofon des Kirchenhistorikers Bernhard Thiessen, ihn habe die unmittelbare Nachwendezeit fasziniert, „weil die Geschichte noch so frisch war“. Er fand die Zeit nach 1989 spannend, war damals in Berlin und machte die Interviews aus eigenem Interesse, weil er den Aufbruchsgeist festhalten wollte. Ursprünglich hatte der Theologe Thiessen eine Ausstellung, ein Buch und einen Kurzfilm über Mennoniten in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR von 1945 bis 1990 erarbeitet. Bei seinen Recherchen im Auftrag des Mennonitischen Geschichtsvereins (MGB) stieß er auf Fennema und besuchte ihn. Dessen Filmsequenzen, acht an der Zahl mit einer Gesamtlänge von sechs Stunden, waren unbearbeitet geblieben. Das historische Filmmaterial war in Vergessenheit geraten. So blieb die Geschichte der Mennoniten in der DDR ohne Aufarbeitung. Bis jetzt.
Filmemacher stieß bei Recherchen auf Pfarrer Hansen mit Stasi-Kontakten
Seine Dokumentation sei nur ein Aufschlag, betont Bernhard Thiessen. Er ist an diesem Abend nach Köpenick gekommen, um den 45-minütigen Film „Gemeinde unter Beobachtung“ zu zeigen. Premiere hatte dieser am 23. April in Neuwied bei der Mitgliederversammlung der Mennoniten in Deutschland, dem sogenannten Gemeindetag. Thiessen war selbst Pastor in den Mennonitengemeinden Hamburg und Berlin – und zuständig für die Mennoniten in den neuen Bundesländern. Im Zuge seiner Recherchen porträtiert Thiessen auch Knuth Hansen. Die evangelische Stadtkirchengemeinde war dessen letzte Dienststelle. Als Gemeindeglied hat Hansen ihr bis zu seinem Tod 2019 angehört.
Das Publikum weiß aus der Ankündigung des Abends, worauf es sich einlässt: Ein ambivalentes Lebenskapitel des ehemaligen Gemeindepfarrers wird aufgeschlagen, das den beliebten Seelsorger und freundlichen Menschen als Mitarbeiter der Staatssicherheit und des russischen Geheimdienstes KGB während der Jahre 1980 bis 1990 zeigt, in denen Hansen Prediger der Mennonitengemeinde der DDR war.
Im Interview von 1992, das der Niederländer Fennema mit ihm führte, ist Knuth Hansen 45 Jahre alt. Seine „guten Kontakte zum Staatssekretariat für Kirchenfragen“ und die damit verbundenen Privilegien räumt er ohne Umschweife ein. Es sei ihm ein Bedürfnis gewesen, sie zum Wohl der Gemeinde einzusetzen, um Reisevisa für den Vorstand zu erwirken oder junge mennonitische Männer von der Einberufung zur Nationalen Volksarme (NVA) der DDR auszunehmen. Hansen selbst besitzt damals ein Dauervisum für Besuche im Westteil Berlins und einen VW, mit dem er mennonitische Familien auf dem gesamten DDR-Gebiet besucht.
Studium am Paulinum und Ordination
Beim Publikumsgespräch an diesem Filmabend in Köpenick relativiert Horst Krüger, ein Zeitgenosse von Hansen im Publikum, der 45 Jahre lang als Mennonitenprediger erst haupt-, dann ehrenamtlich in Westberlin wirkte, das Ausmaß der Stasi-Tätigkeit des Pfarrers: „Hansen sprach von Gemeindebesuchen, die niemals stattgefunden haben, und seine Sitzungsprotokolle waren inhaltsleer.“ Bernhard Thiessen geht darauf ein, indem er die Schriftführerin der DDR-Mennonitengemeinde zitiert, auch sie kommt im Film zu Wort: „Die Dienstanweisung war: Schreib` nichts Wichtiges rein.“ Spekulativ bleibt, ob Knuth Hansen seine „Gemeinde unter Beobachtung“ schützen oder ob er selbst unverdächtig erscheinen will. In den Aufnahmen von 1992 erklärt er: „Meine Stasi-Akte interessiert mich nicht.“ Es wirkt, als habe er sich zu keinem Zeitpunkt von seiner christlichen Überzeugung abbringen lassen.
Hansen ist 22 Jahre alt, als er 1969 dem Methodistenprediger und MfS-Mitarbeiter Gerd Bambowsky begegnet, der ihn fördert und für das Studium empfiehlt. Knuth Hansen studiert in den 1970er Jahren am Paulinum in Berlin Theologie und wird am 21. Oktober 1978 ordiniert. Unmittelbar danach geht er in den kirchlichen Entsendungsdienst der Landeskirche in Wiesenburg/Mark.
Bibeln geschmuggelt und Empfänger verraten
Hansen und Bambowsky gehen eine private Beziehung ein. Seine Homosexualität hält Hansen sein ganzes Berufsleben lang geheim. Als IM Paul begleitet der Theologiestudent Bambowsky Mitte der 1970er Jahre auf Reisen, bei denen Bibeln westlicher Missionsgesellschaften nach Osten in die „sowjetischen Bruderländer“ geschmuggelt werden. Der Besitz und ihre Verbreitung waren dort streng verboten.
Die Historikerin Ann-Kathrin Reichardt, mit der Bernhard Thiessen zusammenarbeitet, kann belegen, „dass Bambowsky Dankesschreiben fingiert und beim Aufbau kleiner Druckereien in der Sowjetunion mitgeholfen hat, um sie anschließend auffliegen zu lassen“. Was aus den Menschen dort wird, lassen die Akten unbeantwortet. Verbrieft ist, dass Hansen mittut, „denn das MfS baut ihn im Folgenden zum einflussreichen IM auf, er soll einer Religionsgemeinschaft vorstehen und fromme Menschen ausspionieren“, so Reichardt.
Mennoniten wurden von der Stasi ausgewählt
Die Wahl fällt auf die Mennoniten. Hansen ist unierten Bekenntnisses, profitiert aber von der DDR-Ausnahmeregelung, wonach er in den Dienst einer weiteren christlichen Kirche treten kann. 1980 wird er der Gemeinde in Berlin-Friedrichshain vorgestellt, nachdem er zwei Jahre lang Gemeindepfarrer in Brandenburg war. Gemeindevorsteher Walter Jantzen äußert Vorbehalte, weil der neue Prediger so gute Beziehungen zum Staat hat. Hansen versichert, die seien nötig, um uneingeschränkt wirken zu können. Die Ruhe, die er damals ausstrahlt, überzeugt auch Horst Krüger: „Wir spürten, das war vielleicht nicht so gut. Aber es war wichtiger, dass wir jemanden für die Gemeinde der DDR hatten“, bilanziert er. 1980 wurde Hansen Mennonitenprediger in Ostberlin.
Nach seiner Zeit bei den Mennoniten und nach der Wende kam Knuth Hansen nach Köpenick. Seine Diensteinführung in der Stadtkirchengemeinde ist im Pfarralmanach mit dem Datum 1. Dezember 1990 angegeben. Außerdem steht da, dass es eine Besetzung durch das Konsistorium war. Die kirchliche Verwaltungsbehörde war offenbar ahnungslos – so wie die Gemeindeglieder in Köpenick.
Großer Vertrauensbruch
Beim Gemeindeabend in der Stadtkirchengemeinde mischen sich Betroffenheit und Unverständnis. Viele Gemeindeglieder schmerzt das zweite Gesicht Pfarrers Hansens. „Der Vertrauensbruch ist entsetzlich“, äußert eine ältere Dame. „Die fehlende Einsicht in die eigene Schuld“, formuliert es Pfarrer Ralf Musold, sei für ihn schwer zu fassen, „sie widerspricht dem Prinzip christlicher Verantwortung und dem, woran wir glauben“. Der Film lasse erkennen, dass Hansen wusste, was er tat. „Unvorstellbar, was Diktatur mit Menschen macht.“
Justus Schwer, zur Zeit der Friedlichen Revolution Pfarrer in Baumschulenweg und von 1990 bis 1994 mit Knut Hansen im selben Pfarrkonvent, schildert, „dass die Kontaktaufnahme zur Stasi allein in der Entscheidung der Einzelnen gelegen hat. Das Nein dazu durchzuhalten, war für alle Pfarrer einfach. Der Schutzraum der Kirche funktionierte sowohl für die Arbeit als auch für das persönliche Leben.“
Knuth Hansen hätte diese Erfahrung wohl geteilt, hätte sein Bekenntnis stärker im Fokus gestanden. So bleibt offen, ob ihn die Verstrickung in das System, an der der später als IM enttarnte Gerd Bambowsky wesentlichen Anteil hat, veranlasst, bei dem Thema Vertrauen Kompromisse zu machen oder ob ihn Privilegien locken. Einen Hinweis gibt ein Adlershofer Gemeindeglied, ein Mann Mitte 80, der die Veranstaltung in der Stadtkirche Köpenick besucht, aber –sichtlich betroffen – seinen Namen nicht nennen möchte. Er urteilt: „Der hielt sich für den Bischof der Mennoniten.“
Stasi-Akte wurde 1989 vernichtet
Dass Hansens Einfluss nicht unerheblich ist, könnte auch der Grund dafür sein, dass seine Stasi-Akte in den letzten Dezembertagen 1989 vernichtet wird, wie Bernhard Thiessen herausfindet. Befürchtet er, wie Gerd Bambowsky enttarnt zu werden und seine Bezüge zu verlieren? Im Gemeindebrief der Mennoniten vom April 1990 schreibt Knuth Hansen, er werde „ab sofort nicht mehr in den Westen fahren, weil man dort schlecht über mich spricht“. Einige Wochen später verlässt er die Gemeinschaft und wechselt in die Evangelische Landeskirche in Berlin-Brandenburg zurück. Von ihr bezieht er nach seiner Pensionierung 2009 bis zu seinem Tod eine Pension. Bis zu seinem Tod 2019 lebt er in Berlin-Mahlsdorf und bleibt aber Gemeindeglied in Köpenick.
Bernhard Thiessen versichert, die Dokumentation wolle zur Erschließung der jüngsten Geschichte der Religionsgemeinschaft der Mennoniten beitragen, nicht moralisch verurteilen. Methodisch geht das auf, indem die Zeitzeugen selbst erzählen. Das Gesprochene bleibt unkommentiert. Das nimmt den Betrachter in die Pflicht, sich Gedanken zu machen. Vor dem Hintergrund der jüngsten EKBO-Erklärung zur MfS-Tätigkeit des DDR-Gefängnisseelsorgers Eckart Giebeler ist dem Film ein breites Publikum zu wünschen, das darüber reflektiert, wie man als Christ*in im Glauben und Handeln wahrhaftig bleibt.
Tanja Kasischke verantwortet die Öffentlichkeitsarbeit in der Stadtkirchengemeinde Köpenick