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Sportzwang: Zwischen Leidenschaft und Sucht

Sport wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus. Doch für manche wird Sport zur Sucht. Wo die Trennlinie liegt, welche Symptome als Warnsignal gelten und wieso diese Suchterkrankung kaum erforscht ist, erklärt der Sportpsychologe Oliver Stoll im Interview des Evangelischen Pressedienstes (epd). Stoll ist Professor für Sportpsychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er forscht seit Jahren zum Thema Sportsucht und Sportzwang.

epd: Herr Stoll, wie kann man ein gesundes Verhältnis zu Sport von einem Sportzwang unterscheiden?

Oliver Stoll: Die Trennlinie kann verschwimmen. Wir unterscheiden generell zwischen einer Sportbindung und einer Sportsucht. Von einer Sportbindung spricht man, wenn Menschen sehr gerne und intensiv Sport machen, sich beispielsweise auf einen Ironman oder einen Marathon vorbereiten und dafür sehr viel trainieren oder den Sport sogar beruflich ausüben. Obwohl in diesem Fall sehr viel Sport getrieben wird, ist man deswegen aber noch nicht süchtig, sondern eher gebunden. Dann gibt es auf der anderen Seite die Sportsucht. Hierbei weisen Betroffene ein zwanghaftes Verhalten auf.

epd: Wie kann eine Sportsucht festgestellt werden?

Stoll: Hierzu gibt es Fragebögen und Screenings, die das feststellen sollen. Ob dann aber wirklich jemand sportsüchtig ist, kann nur durch einen Psychiater oder einen psychologischen Psychotherapeuten festgestellt werden. Es müssen in jedem Fall bestimmte Symptome vorkommen.

epd: Welche Symptome sind das?

Stoll: Die zentralen Merkmale sind der soziale Rückzug, ähnlich wie bei vielen anderen Suchterkrankungen, sowie ein zwanghaftes Verhältnis zu Sport. Die Gedanken kreisen den ganzen Tag nur noch um dieses Thema. Es muss Sport gemacht werden, selbst bei Erschöpfung oder Erkrankung. Der zwanghafte Charakter ist also zentral bei einer Sportsucht.

epd: Welche Gründe sind häufige Auslöser für eine Sportsucht?

Stoll: Es gibt viele verschiedene Gründe für eine Sportsucht. Wir gehen davon aus, dass es eine genetische Disposition gibt. Aber auch bestimmte einschneidende, kritische Lebensereignisse wie Mobbing, Kündigung, Trennung oder der Verlust eines geliebten Menschen können Auslöser einer Sportsucht sein. Oft spielen verschiedene Faktoren zusammen in Kombination mit Persönlichkeitsmerkmalen wie Perfektionismus. Meistens beginnt es mit einer Sportbindung, eine Art Kompensation, die den Betroffenen sich erstmal besser fühlen lässt, was dann eben manchmal in einen Sportzwang ausartet.

epd: Geht die Erkrankung häufig mit anderen Suchterkrankungen einher wie zum Beispiel Magersucht?

Stoll: Ja, das kommt durchaus vor. Wir kennen zwei Formen der Sportsucht, die primäre und die sekundäre. Letztere kommt deutlich häufiger vor. Etwa 25 Prozent der Essgestörten entwickeln auch eine Sportsucht. Betroffene versuchen neben der Kalorienrestriktion dann auch durch exzessives Sporttreiben abzunehmen. Hierbei spricht man dann von einer sekundären Sportsucht, da die Essstörung zuerst da war. Die primäre Sportsucht kommt relativ selten vor, sie liegt bei etwa zwei bis drei Prozent.

epd: Sind häufiger Männer oder Frauen betroffen?

Stoll: Wir konnten bisher keine geschlechtsspezifischen Unterschiede erkennen. Frauen sind genauso häufig betroffen wie Männer.

epd: Worin unterscheidet sich die Sportsucht von anderen Suchterkrankungen wie zum Beispiel einer Alkoholsucht?

Stoll: Der zentrale Unterschied besteht darin, dass es sich bei der Sportsucht um eine Verhaltenssucht und eben keine stoffgebundene Sucht handelt, wie zum Beispiel Alkohol oder Drogen. Dort gibt es die sogenannte Dosissteigerung, also Alkoholabhängige brauchen immer mehr, um einen Effekt zu erzielen. Diese Dosissteigerung gibt es beim Sportzwang in dieser Form nicht. Auch die Entzugssymptomatik bei Alkoholsüchtigen ist anders als bei Sportsüchtigen. Ansonsten gibt es aber sehr viele Parallelen wie zum Beispiel das ständige Kreisen der Gedanken und den sozialen Rückzug.

epd: Was passiert bei Sport konkret im Gehirn, das süchtig macht?

Stoll: Beim Sporttreiben werden im Gehirn bestimmte Hormone freigesetzt wie Dopamin und Serotonin. Diese könnten dazu führen, dass der Betroffene eine Abhängigkeit entwickelt. Bewiesen wurde das aber bisher noch nicht. Darüber hinaus werden beim Sport Areale im Gehirn, die dafür sorgen, dass man logisch denken kann, rationale Entscheidungen trifft und sich konzentrieren kann, herunterreguliert. Dadurch hat man eine Art Flow-Erleben, die Wahrnehmung von Zeit und Raum verschwimmt. Bei Läufern spricht man hierbei auch vom sogenannten Runners-High. Ob das süchtig macht, ist noch einmal eine andere Frage. Es kann sein, dass jemand, der diesen Flow-Zustand erlebt, das immer wieder erleben möchte, aber es gibt keine empirischen Beweise dafür.

epd: Die Zahl junger Menschen, die eine Sportsucht entwickeln, steigt. Welchen Anteil haben soziale Medien daran?

Stoll: Der Gedanke, dass soziale Medien eine Sportsucht begünstigen können, liegt auf der Hand, aber es gibt hierzu noch keine soliden Daten. Problematisch könnte sein, dass in sozialen Medien ein bestimmtes Schönheitsideal oder Körperbild propagiert wird, das junge Frauen und Männer unter Druck setzt.

epd: Wieso ist Sportsucht so schlecht erforscht?

Stoll: Es betrifft nur sehr wenige Menschen. Die Häufigkeit der Krankheit liegt bei drei Prozent der sporttreibenden Personen und bei unter einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Da es nur so wenige Betroffene gibt, werden auch kaum finanzielle Mittel für die Forschung bereitgestellt. Das halte ich für ein Problem.