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Soziologe Bude über die Welt der Babyboomer

Generation X, Y, Z, die 68er und die Millennials – der Fantasie bei der Benennung der Generationen sind keine Grenzen gesetzt. In diesem Jahr rücken die Babyboomer in den Mittelpunkt

Sie gelten als weltoffen, tolerant und politisch engagiert: die Babyboomer. Inzwischen allerdings werden sie auch als die Verschwender von Ressourcen und als Klimakiller attackiert.

2024 ist der Scheitelpunkt der Boomer-Welle erreicht. Denn 1964 war der Höhepunkt des Babybooms, dann folgte der Pillenknick. Vor 60 Jahren kamen hierzulande 1,36 Millionen Kinder auf die Welt, so viele wie nie wieder. Ein wahrer Kindersegen, der sich mittlerweile zur Rentnerschwemme auswächst.

Heinz Bude ist einer aus dieser Alterskohorte. Der Kasseler Soziologe, geboren 1954, beschreibt seine Generation in der neuen Studie “Abschied von den Boomern”. Aber sind solche Generationen-Kategorien überhaupt aussagekräftig? Bude weiß um die Grenzen dieses Interpretationsschemas und betont, dass es “den typischen Babyboomer” nicht gebe. Er hält aber zugleich daran fest, dass sich in einer Generation bestimmte Lebenserfahrungen, Lebensauffassungen und Lebenschancen ähneln.

“Zu einer Generation werden bestimmte Geburtsjahrgänge durch eine geteilte Geschichte”, schreibt er. Sie macht sich etwa an der Musik, an Filmen, an den Idolen und an den Alltagsmythen der jeweiligen Zeit fest. “So entsteht aus ganz persönlichen und privaten Erlebnissen ein kollektiver Rahmen.”

Bude lässt in seinem Buch wichtige Lebensstationen der Boomer Revue passieren: “Man darf nicht vergessen, dass die Boomer im Nachbeben des Weltkriegs aufgewachsen sind”, schreibt er. Sie erinnern sich an den Friseur, der sich durch seinen Salon mit einer Beinprothese jonglierte, und an den Nachbarn von gegenüber, dem ein Arm fehlte und der sich als Nachtwächter sein Geld verdiente; sie haben als Kinder von Flüchtlingen und Vertriebenen erlebt, wie die ganze Energie ihrer Eltern in den Bau eines Eigenheims floss; sie haben nach der Schule im Radio die Sendungen des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes gehört; sie wussten genau, welche ihrer Lehrerinnen und Lehrer Nazis waren.”

Als sehr grundlegende Gemeinsamkeit beschreibt der Soziologe die Erfahrung des “Wir waren immer zu viele” – ob im Kindergarten, in der Schule oder der Uni. Von Anfang an hätten die Boomer die zwiespältige Erfahrung gemacht, Hoffnungsträger eines gesellschaftlichen Neubeginns und zugleich Betroffene des Bildungsnotstands zu sein.

Für sie wurde die “reformierte Oberstufe” eingerichtet, sie haben in “Kurzschuljahren” Bildungszeit verkürzt, an einer Massenuni mussten sie sich in Einführungsseminaren mit 150 Leuten durchschlagen. Dass Akademiker ihr Brot mit Taxifahren verdienen, war für viele eine durchaus realistische Perspektive. “Das alles spielte sich ab in einer Welt mit Einbauküchen, Schmelzkäseecken und Whisky der Marke Racke Rauchzart, mit Müttern, die sich als Genusszigarette eine Astor gönnten, und mit Vätern, die am Donnerstagabend zum Kegeln verschwanden.”

Laut Bude haben die Boomer auf dem Lebensweg vom Wirtschaftswunder bis zu den Grenzen des Wachstums eine gehörige Skepsis entwickelt. Seit den 1970er Jahren erlebten sie, dass die Linien von Wohlstand, Fortschritt, sozialer Sicherheit und politischer Integration nicht mehr einfach weitergezogen werden konnten. Autofreie Sonntage, der Terror der RAF, Smogalarm und hohe “Sockelarbeitslosigkeit” beeinflussten jeden Einzelnen. Später kamen Tschernobyl und Aids als Wendepunkte dazu. “So gehen die Boomer als erste Generation ohne direkte Kriegserfahrung in der Aufholphase der Nachkriegsentwicklung in eine Zukunft ohne Gewähr”, schreibt Bude.

Mittlerweile verabschieden sich immer mehr Babyboomer in die Rente. Und damit stellt sich für viele die Frage nach der historischen Einordnung ihrer Generation. “Anders als die Generation der Jugendbewegung der zehner oder die der Studentenbewegung der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts treten die Boomer nicht als Generation mit einem Anspruch oder einem Projekt an”, schreibt Bude. Auch ein verbreitetes Wir-Gefühl gebe es nicht.

Aus Sicht des Autors zeichnen sich die Babyboomer eher durch Leistungsorientierung und Pragmatismus aus. Sie seien skeptisch und rechneten mit dem Scheitern. Zugleich hätten sie Mut für Experimente und Neues – von den neuen sozialen Bewegungen bis hin zur Bereitschaft, sich auch jenseits der Rentengrenze zu engagieren und zu arbeiten.