Viele Interessengruppen in unserer Gesellschaft stellen zunehmend ihr persönliches Wohl in den Mittelpunkt, warnen Caritas und Diakonie in Baden-Württemberg. Tatsächlich Bedürftige gerieten immer mehr aus dem Blick.
Eigentlich heißt es im Grundgesetz: “Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.” Doch das in Artikel 20 verankerte Sozialstaatsprinzip gilt aus Sicht von Caritas und Diakonie immer weniger. Ein “vermehrtes Anspruchsdenken” aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft bringe den Sozialstaat zunehmend unter Druck, erklärten Repräsentanten der christlichen Wohlfahrtsverbände in Baden-Württemberg am Donnerstag in einer Pressekonferenz. Der soziale Zusammenhalt in Deutschland werde brüchiger – und dies in Zeiten einer “größer werdenden gesellschaftlichen Spaltung”.
Der Blick über den Tellerrand auf das “größere Gemeinsame” gehe zunehmend verloren, sagte Oliver Merkelbach, Vorstandsvorsitzender des Caritasverbandes der Diözese Rottenburg-Stuttgart. “Wir nehmen wahr, dass viele Interessengruppen in unserer Gesellschaft zunehmend ihr persönliches Wohl in den Mittelpunkt stellen”. Die tatsächlich Bedürftigen gerieten dabei immer mehr aus dem Blick. Das aber seien “Menschen, die keine laute Lobby haben und zu oft zum Sündenbock gemacht werden”, sagte Merkelbach.
Die christlichen Wohlfahrtsverbände verwehrten sich dagegen, “Menschen mit Unterstützungsbedarf Unwillen und Schuld an ihrer Situation zuzuweisen”. Dies seien “Schreckensbilder”, die nicht der Realität entsprächen. Beispielsweise gebe es bei den Bürgergeldbeziehern tatsächlich nur etwa ein Prozent Totalverweigerer von Arbeit oder Ausbildungen.
Urs Keller, Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werks Baden, erläuterte, die Wohlfahrtsverbände stärkten in ihren Diensten und Einrichtungen Menschen, die “ihr Leben mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht so richtig anpacken können”. Ihnen fehle es oft an finanziellen Ressourcen, aber auch an Bildung, Gesundheit oder sozialen Beziehungen. “Wir verstehen uns als Anwalt dieser Menschen.”
“Neue Wege” gehe die Caritas etwa bei der Hilfe für Menschen bei der Wohnungssuche, hieß es. Die “Kirchliche Wohnrauminitiative” sei inzwischen an zehn Standorten in der Diözese Rottenburg-Stuttgart aktiv. Ziel ist es, leerstehenden Wohnraum zu finden und diesen entweder direkt an Mieterinnen und Mieter zu vermitteln oder ihn für eine Zwischenvermietung selbst anzumieten.
Doch trotz der allgemeinen Wohnungsnot gebe es in Baden-Württemberg noch immer viele leerstehende Wohnungen oder Einliegerwohnungen. Vermieter hätten etwa Bedenken, ob die Miete pünktlich kommt oder der Mieter sorgfältig mit dem Wohnraum umgeht. “Wenn wir als Caritas dazwischengeschaltet sind, können solche Bedenken der Vermieter häufig ausgeräumt werden.” Seit Gründung der Initiative im Jahr 2019 sei 1.342 Menschen geholfen worden, Wohnraum zu finden. Für die Initiative stellt die Diözese Rottenburg-Stuttgart seit 2019 bis 2026 insgesamt rund 8,2 Millionen Euro zur Verfügung.
Ein anderes Projekt, bei dem die Diakonie neue Wege in der Kooperation mit Kommunen geht: “Kälteschutz für wohnungslose Menschen” in Freiburg. Auslöser sei gewesen, dass im Winter 2022/2023 rund 40 wohnungslose Menschen in Deutschland erfroren seien. Die Stadt Freiburg habe nun im letzten Winter in einem leerstehenden, ehemaligen Drogeriemarkt einen Raum als Notunterkunft und Kälteschutz eingerichtet. Das Problem war zunächst, dass aufgrund des Personalmangels kaum Fachkräfte für die Betreuung der Obdachlosen verfügbar waren.
Die Lösung: “Das Angebot konnte trotz Personalmangels mehr als drei Monate bestehen, weil die Diakonie Freiburg eng mit der Stadt und der Evangelischen Hochschule zusammengearbeitet hat”, so Keller. Man suchte zehn Studierende, die morgens und abends als Ansprechpartner für Aufnahmeformalitäten zur Verfügung standen – in Zusammenarbeit mit Mitarbeitern der städtischen Notübernachtung “Oase”. Vor Ort gab es eine Sozialarbeits-Fachkraft. Die Notübernachtung wurde vom Kältebus des Deutschen Roten Kreuzes angefahren, der heiße Getränke und eine warme Suppe ausgab.
Kälteschutz und Wohnrauminitiative: Projekte, die Gräben in der Gesellschaft überwinden sollen. Gelinge dies nicht, gedeihe populistisches Denken und Reden, mahnt Diakonie-Baden-Chef Keller und betont: “Demokratie und verlässlicher Sozialstaat sind untrennbar miteinander verbunden.”