Träger der Arbeitslosenhilfe stehen mit dem Rücken zur Wand, beobachtet die Chefin des Diakonischen Werks Württemberg, Oberkirchenrätin Annette Noller. Wenn der Bundestag nicht trotz des Bruchs der Ampel-Koalition bald einen Haushalt beschließt, müssten einige Sozialkaufhäuser wahrscheinlich dichtmachen, warnt Noller im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Außerdem nennt sie einen überraschenden Grund, warum sich weniger junge Menschen für die Ausbildung in einem Sozialberuf entscheiden.
epd: Frau Dr. Noller, der Doppelhaushalt 2025/26 wurde kürzlich in den baden-württembergischen Landtag eingebracht. Gesprochen wurde dabei viel über Digitalisierung und Bildung, aber kaum über den Bereich Soziales. Sieht im Haushaltsentwurf aus Ihrer Sicht alles gut aus?
Noller: Wir sind der Überzeugung, dass Menschen gerade in Krisenzeiten ein hohes Interesse daran haben, verlässliche Strukturen anzutreffen. Damit, wenn sie in eine Notlage etwa durch Arbeitslosigkeit, eine Alkoholerkrankung oder Pflegebedürftigkeit geraten, sie dann gut versorgt sind. Deshalb setzen wir uns auch für Steigerungen bei den Sozialausgaben ein. An einem Punkt ist das im kommenden Haushalt gelungen: in der Suchtkrankenhilfe. Der Eigenanteil der Träger war in den vergangenen Jahren teilweise auf bis zu 25 Prozent gestiegen – Geld, das vor allem aus Kirchensteuern finanziert wird. Nach den geplanten Erhöhungen im Haushalt müssen wir nur noch 10 Prozent an Eigenmitteln zusteuern. Das können wir erbringen. Auch die Zuschüsse für weitere Schutzplätze in Frauen- und Kinderschutzhäusern und die Finanzierung von Anschlusswohnen nach einem Frauenhausaufenthalt konnten erhöht werden. Das ist gut und unbedingt notwendig für Frauen und Kinder, die häusliche Gewalt erleben mussten.
epd: In welchen Bereichen muss die Diakonie Alarm schlagen?
Noller: Ganz besonders bei der Arbeitslosenhilfe. Langzeitarbeitslose Menschen sind sehr vulnerable Personen. Nur die wenigsten von ihnen wollen nicht arbeiten, viele können aus unterschiedlichen Gründen nicht – weil sie pflegebedürftige Angehörige haben, alleine erziehen oder erkrankt sind. Wir hatten vier Bausteine in die Sozialpolitik eingebracht, die wir für diesen Personenkreis dringend brauchen, doch davon ist nur einer aufgegriffen worden. Im Programm „BeJuga“ geht es darum, an 32 Standorten Eltern mit Kindern im Bereich Bildung, Arbeit und Ausbildung weiter zu unterstützen, Dieser Baustein bleibt erhalten. Das begrüßen wir ausdrücklich. Dazu kommt, dass durch die Verschiebung des Bundeshaushalts nach dem Bruch der Ampel-Koalition in Berlin die Arbeitslosenhilfeträger akut gefährdet sind. Das kann zum Beispiel Sozialkaufhäusern die Existenz kosten. Da sind wir sehr beunruhigt.
epd: Was bedeutet das für Langzeitarbeitslose, wenn sie keine Hilfe bekommen?
Noller: Diese Menschen brauchen Unterstützung, zum Beispiel in Form von Kinderbetreuung oder mit finanzieller Hilfe, über die sie oft nicht informiert sind. Sie brauchen also Beratung. Manche sind in Resignation verfallen und haben sich selbst aufgegeben, und diese Menschen werden von Arbeitslosenhilfeträgern in Programme genommen. Sie erhalten einfache Beschäftigung, um in eine Alltagsstruktur zu kommen, sich etwas zuzutrauen und fit zu werden für den Arbeitsmarkt. Das ist eine ganz wichtige Begleitung dieser Menschen.
epd: Um wie viel Geld geht es bei diesen drei Bausteinen?
Noller: Hier geht es um ungefähr 700.000 Euro für Arbeitslosenhilfezentren, die uns besonders am Herzen liegen. Es geht aber auch um kleine Bausteine wie das „Netzwerk Teilzeitausbildung“, das nur 100.000 Euro pro Jahr benötigen würde. Mit großer Wirkung. Auch für Ideenwettbewerb und Projekte würden geringe Summen ausreichen.
epd: Wichtig ist Ihnen auch die Familienförderstrategie, da geht es um 14 Millionen Euro. Was soll das bringen?
Noller: Es ist einfach so: Wenn einer in der Familie arbeitslos geworden ist oder schwer erkrankt, dann wissen die Angehörigen oft gar nicht, welche Hilfsmöglichkeiten sie in Anspruch nehmen können. Deshalb soll ein Lotsensystem aufgebaut werden, um die betroffenen Familien an die Hand zu nehmen. Viele aus dieser Gruppe finden nämlich die Angebote nicht, die genau für sie geschaffen wurden. Gelder für dieses Lotsensystem sind im Haushaltsentwurf aber nirgends zu finden.
epd: An welcher empfindlichen Stelle fehlt noch das Geld?
Noller: Ein Thema wirkt abseitig, hat aber weitreichende Konsequenzen: Schülerinnen und Schüler, die eine berufliche Ausbildung in bestimmten sozialen Berufen machen, nehmen lange Fahrwege auf sich, um an den Schulstandort zu kommen. Das bezahlt ihnen niemand. Wer dagegen ein Handwerk lernt – Metzger, Installateur – bekommt die Fahrtkosten vom Staat refinanziert. Für angehende Berufstätige in der Heilerziehungspflege oder Familienpflege gibt es das nicht.
Besonders prekär ist das im Bereich der Familienpflege. Hier kommt eine Fachkraft in akuten Krisen in eine Familie, wenn zum Beispiel ein Elternteil lange Zeit krank oder verstorben ist. Dafür gibt es in ganz Baden-Württemberg nur zwei Schulen, eine in Freiburg und eine in Korntal bei Stuttgart. Wenn sich jetzt jemand aus Mannheim für diese Ausbildung interessiert, wird dieser junge Mensch die Reise- und Übernachtungskosten nicht selbst tragen können. Also ist die Ausbildung in sozialen Berufen teurer und damit weniger attraktiv. Dann müssen wir uns über die geringe Zahl derer, die einen sozialen Beruf erlernen wollen, auch nicht wundern.
epd: Durch die Auflösung der Berliner Ampel-Koalition gibt es zunächst keinen Nachtragshaushalt des Bundes und keinen Haushalt für 2025. Welche Auswirkungen hat das auf Menschen in Baden-Württemberg?
Noller: Das ist im Moment besonders schwierig für die Freiwilligendienste. Diese Dienste sind sehr wichtig für Demokratiebildung oder als Vorbereitung auf einen sozialen Beruf. Seit Jahren hat es in diesem Bereich keine finanzielle Steigerung mehr gegeben. Und nun wird jedes Jahr aufs Neue diskutiert, ob hier gekürzt wird. Wir haben überhaupt keine Planungssicherheit, obwohl wir hier beim Diakonischen Werk wirklich viele Menschen beschäftigen, die sich speziell für diesen Personenkreis der Freiwilligen einsetzen. Man weiß nie, ob im nächsten Jahr noch das Geld für diese Dienste da ist.
Wir können im Moment keine weiteren Verträge mit Interessierten für den Bundesfreiwilligendienst abschließen, obwohl es mit den Diensten am 1. Januar weitergehen soll. Der Haushalt muss also noch im laufenden Jahr beschlossen werden, damit die entsprechenden Mittel zum 1. Januar zur Verfügung stehen. Andernfalls müssen wir die Zahl der Stellen für Freiwillige im Bundesfreiwilligendienst deutlich reduzieren.
epd: Wo sehen Sie noch Probleme?
Noller: Auch die psychosozialen Zentren für Flüchtlinge sind sehr wichtig. Da gab es im vergangenen Jahr eine Steigerung der Zuschüsse. Und nun wurde diese Steigerung wieder zurückgenommen und zwar von 13 auf 7 Millionen. Das bringt uns als Diakonisches Werk natürlich ganz besondere Risiken, die wir immer wieder abfedern müssen. Der Politik möchte ich ans Herz legen, die dauernden Debatten zu beenden, ob man bei Flüchtlingen oder Langzeiterkrankten Gelder streichen kann. Das führt zur Verunsicherung der Menschen, die diesen individuellen Risiken ausgesetzt sind. Der Sozialhaushalt darf nicht immer Spielball für Kürzungen sein. Das ist auch für die Anbieter nicht tragbar.
epd: Sie haben am 23. Oktober einen Brandbrief an die baden-württembergischen Landtagsabgeordneten geschrieben. Was haben Sie für Reaktionen erhalten?
Noller: Es gab einzelne Rückmeldungen, freundliche Reaktionen, Dankbarkeit für die Hintergrundinformationen, die wir liefern. Natürlich gehen wir auch in persönliche Gespräche.
epd: Ist es denn heute schwieriger als vor 20 Jahren, die Politik auf Soziales anzusprechen?
Noller: Ja. Vor 20 Jahren gab es mehr Einladungen zu Anhörungen. Heute müssen wir als Wohlfahrtsverband viel initiativer sein. Früher ist die Politik selbstverständlicher auf uns zugekommen. Mein Eindruck ist, dass der Wert der Subsidiarität nicht im Bewusstsein der Politik ist. Dabei ist das verfassungsrechtlich abgesichert. Demnach soll, wenn eine soziale Dienstleistung angeboten wird, zunächst vorrangig ein freier Träger diese übernehmen. Vonseiten der öffentlichen Hand gibt es eine Leistungs- und Förderungspflicht. Dieses System wurde auch als Reaktion auf die Zeit des Nationalsozialismus eingeführt, weil man die Gefahren eines übermächtigen Staates erlebt hatte. Subsidiarität hat sich in der Bundesrepublik bewährt. Wir sollten sie stärken, nicht schwächen. (2531/12.11.2024)