Solange ich denken kann, gab es in meiner Familie zu Heiligabend und Silvester immer das gleiche Essen: schlesische Weißwurst. Vater und Mutter waren Vertriebene, in den Endtagen des Kriegs mussten sie aus der Gegend um Breslau fliehen. Und sie brachten diese Tradition aus der alten Heimat mit.
Das war etwas ganz Besonderes. Schon alleine deshalb, weil es die schläsche Weißwurscht, wie mein Vater zu sagen pflegte, eben nur an diesen beiden Tagen im Jahr gab. Schon beim Besorgen war das zu spüren: Nur wenige Fleischer lieferten die Exotin; nur auf Vorbestellung. Nur für den 24. und 31. Dezember.
Wir Kinder freuten uns wie verrückt auf dieses Essen. Im Grunde war es das eigentliche Geschenk zur Festzeit. Wir schlugen uns die Bäuche damit voll. Und auch am nächsten Tag konnte der Rest der Brühwurst noch einmal aufgebraten werden. Herrlich.
Später, als wir keine Kinder mehr waren, wunderten wir uns schon ein wenig darüber. Im Grunde war das Essen sehr schlicht. Die Brühwurst. Dazu Brot. Sauerkraut. Und eine ganz schlichte Mehlsoße, „Tunke“ genannt. Irgendjemand sagte mal: Hat was von Arme-Leute-Essen. Aber das war uns als Kindern nicht klar. Wir liebten dieses Gericht. Schlesische Weißwurst auf dem Teller, im Fernsehen „Der letzte Mohikaner“, und in der Stube ein Weihnachtsbaum, der grässlich nadelte – so sieht in meiner Erinnerung noch heute das perfekte Weihnachtsfest aus.
Meine beiden Brüder daheim bewahrten das Ritual in ihren Familien, bis auf den heutigen Tag. Bei mir dagegen verlor es sich im Laufe der Jahre. Fort von Zuhause, als Single unterwegs, Eltern verstorben, – irgendwie verlor ich das Bewusstsein dafür.
Viele Jahre später erlebte ich dann das erste Weihnachtsfest bei meiner neuen Schwiegerfamilie, tief im Süden Deutschlands. Ich war gespannt, was am Heiligen Abend auf den Tisch kommen würde – irgendeine fränkische Spezialität, da war ich mir sicher.
Stattdessen: schlesische Weißwurst! Ehefrau und Schwiegermutter hatten sich bei meinen Brüdern erkundigt, das Rezept eingeholt – und einen Metzger gefunden, der die Wurst liefern konnte. Ich war … sprachlos. Zu Tränen gerührt. Ich hatte das Gefühl: Ich war angekommen. So fühlt sich Familie an.
Gerd-Matthias Hoeffchen
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