Predigttext
12 Gott hat euch als seine Heiligen erwählt, denen er seine Liebe
schenkt. Darum legt nun das neue Gewand an. Es besteht
aus herzlichem Erbarmen, Güte, Demut, Freundlichkeit und Geduld.
13 Ertragt euch gegenseitig und vergebt einander, wenn
einer dem anderen etwas vorwirft. Wie der Herr euch vergeben
hat, so sollt auch ihr vergeben! 14 Vor allem aber bekleidet
euch mit der Liebe. Sie ist das Band, das euch zu vollkommener
Einheit zusammenschließt. 15 Und der Friede, den Christus
schenkt, lenke eure Herzen. Dazu seid ihr berufen als Glieder
des einen Leibes. Und dafür sollt ihr dankbar sein! 16 Das Wort,
in dem Christus gegenwärtig ist, wohne in reichem Maß bei
euch. Lehrt einander und ermahnt euch gegenseitig. Tut das
in aller Weisheit. Singt Gott aus vollem Herzen Psalmen, Hymnen
und geistliche Lieder. Denn er hat euch Gnade geschenkt.
17 Alles, was ihr sagt und tut, soll im Namen des Herrn Jesus
geschehen. Dankt dabei Gott, dem Vater, durch ihn. BasisBibel
Singen aus vollem Herzen? Schnürt es uns nicht die Kehle zu, wenn wir angesichts von menschenverachtender Aggression, von Schrecken, Gewalt und Tod den Mund aufmachen, um zu singen, um Gott zu loben?
Es war im Jahr 1914. In einem aussichtslosen Stellungskampf an der Westfront im Ersten Weltkrieg hatten sich die Rekruten der gegnerischen Armeen in die Schützengräben vergraben. Ringsum die lähmende Stille des Todes, immer wieder unterbrochen durch Geschützfeuer und das Gebrüll der Offiziere. Die jungen Männer waren Soldaten geworden, waren losgezogen, verführt zum Heldentum. Jetzt, nach fast fünf Monaten Krieg, waren viele Kameraden tot und alle Ideale des Heldentums kaputt. Der Krieg ist grausam und unerbittlich, jeder Krieg ist das, allzu oft angeheizt durch eine Rhetorik, die immer tödlichere Waffen nötig zu machen meint. Singen? Gilt hier nicht mehr. Die Kehlen kennen nur noch Kriegsgeschrei. Dann, am Weihnachtsabend 1914 geschieht es plötzlich. Wo vorher Geschützdonner war, hört man auf einmal: Gesang! Es ist kaum zu glauben. Die verfeindeten Soldaten singen Weihnachtslieder, erst einzeln, dann zusammen, jeder in seiner Sprache und doch gemeinsam. Immer lauter, immer kräftiger, immer gewisser, das Richtige zu tun. Singen – ein Lichtstrahl der Menschlichkeit.
Diese wahre Episode klingt wie ein Märchen, wie ein pazifistischer Traum. Und doch muss es so etwas ähnliches sein, was Paulus meint, wenn er von „herzlichem Erbarmen, Güte, Demut, Freundlichkeit und Geduld“ schreibt. – Kinderkram! – könnte man meinen. Damit gewinnt man keinen Krieg. Ja, das stimmt. Damit gewinnt man keinen Krieg. Es ist aber der Weg der Menschlichkeit. Es ist der Weg, der dem Leben den Vorzug gibt vor dem Tod, der die Gewalt aushebelt, der das Leben, vielleicht auch das Überleben feiert.
Paulus schreibt, wir sollen singen „aus vollem Herzen“, vielleicht auch gegen die Angst und gegen die Macht der Mehrheiten? Gegen diejenigen, die den Krieg anheizen mit immer mehr Waffenlieferungen und sich dabei moralisch im Recht sehen?
Singen aus vollem Herzen? Ich muss an eine weitere Begebenheit denken: Es war in den Achtzigern. Ich lebte in der DDR und war zur Armee eingezogen worden. Zivildienst gab es in der DDR nicht. Den „Dienst“ mit der Waffe konnte man nur ablehnen, indem man entweder Totalverweigerer war, inklusive Gefängnisstrafe oder indem man zu den sogenannten Bausoldaten ging. Ich hatte mich für letzteres entschieden. Bausoldaten wurden vom Regime grundsätzlich als Kriminelle angesehen und entsprechend behandelt. Nun, wir standen eines Winterabends draußen auf dem Exerzierplatz, waren „angetreten“. Offiziere brüllten Befehle. – Plötzlich fing einer unserer Kameraden in unerschütterlichem Bariton an zu singen: „Der Mond ist aufgegangen…“. – sofort stimmten wir anderen ein. Es entwickelte sich ein unglaublicher Klang, ein Männerchor, der nicht mehr zu stoppen war, auch nicht durch das laute „Lied aus!“- Geschrei unserer Offiziere. So sangen wir alle Strophen bis zu Ende. Dieses Lied an diesem Abend in dieser Situation! Ein Lied, das so gar nichts gemeinsam hat mit Macht, Gewalt, Befehl und Gebrüll.
Dieser Gesang fällt mir ein, wenn ich in unserem Paulustext lese (12 und 14). Diese Worte vom menschlichen Miteinander müssen sich gerade in Konfliktsituationen bewähren, gerade dann, wenn wir keine Lösungen haben, wenn wir verloren sind in scheinbar aussichtlosen Auseinandersetzungen und wenn sich die Spirale der Gewalt immer weiter zu drehen scheint.